Eine Schule fürs Leben

■ Die Freie Kinderschule in Hamburg-Harburg ist eine Schule der anderen Art: Hier lernen Kinder ohne Leistungsdruck, passives Pauken ist nicht gefragt

Die Tür springt auf, und der kleine Fynn marschiert mit einem selbstgemachten Plakat unter dem Arm hinaus. Vier Türen weiter wird das Papier fachmännisch von dem Sechsjährigen befestigt. „Neueröffnung“steht da zu lesen – in fehlerfreier Schreibschrift. Hinter der Tür befindet sich der neue Bücherverleih, den Freunde von Fynn organisiert haben. Bücher werden gegen Spielgeld an andere Kinder verliehen. Fynn ist ganz begeistert von dieser Idee. Ob die Ausleihe läuft, muß sich aber erst noch herausstellen.

Fynn geht in die erste Klasse der Freien Kinderschule in Hamburg-Harburg. Unterricht sieht hier anders aus als an einer normalen Regelschule: Bevor die Schule beginnt, treffen sich die Erstklässler erst einmal im Morgenkreis. Nebenan rechnen ein paar Mädchen fleißig auf ihren Rechenkarten. Schüler der vierten Klasse befassen sich gerade mit dem Thema Krieg und schreiben nun einen Brief an den Bundeskanzler. Mittags treffen sich alle in der gemeinsamen Kantine, natürlich bei ökologisch vollwertigem Essen. Am Nachmittag treffen sich die Drittklässler zur Theaterprobe, in der Aula wird musiziert, und Fynn bastelt zusammen mit anderen einen Drachen.

Selbst in den Sommerferien werden den Kindern Fahrten und Ausflüge geboten. Die Freie Kinderschule ist eine Grundschule im anderen pädagogischen Sinn: Leistungsdruck, reines Schülerdasein und passives Pauken von Fakten sind hier nicht gefragt. „Die Vorteile unserer Schule liegen im Wegfallen vieler bürokratischer Einschränkungen, die an einer Regelschule existieren“, meint Sabine Franke. Zusammen mit anderen engagierten Eltern gründete die Mutter zweier Kinder vor gut zehn Jahren die Harburger Schule.

Inzwischen existiert bereits eine länderübergreifende Bewegung der Kinderschulen. Einmal im Jahr findet ein bundesweiter Schulkongreß statt. Erfahrungen werden ausgetauscht, neue pädagogische Konzepte entstehen. Denn Schule, so meint Reiner Kapmeier, sei einfach ein Prozeß, der sich immer wieder neu der Entwicklung der Schülergenerationen anpassen müsse. „Natürlich sind wir im Lehrstoff an die Hamburger Regeln gebunden“, erläutert der Harburger Lehrer, „gleichzeitig haben wir aber unser Konzept im Laufe der Jahre immer wieder überarbeitet.“

Eine Studie der Hamburger Universität widmete sich im vergangenen Jahr dem Werdegang der SchülerInnen, die die Pionierklasse der Freien Kinderschule vor zehn Jahren besuchten. Das Resultat: Weiterführende Schulen schätzen das selbstbewußte Auftreten der SchülerInnen. Kritikfähigkeit und Toleranz werden gelobt. Schwierigkeiten treten nur bei den Hausaufgaben auf. Denn die gibt es in der Freien Kinderschule erst ab der dritten Klasse.

„Wir halten nichts von Konkurrenzkämpfen“, meint Pädagoge Kapmeyer. „Unsere Schüler gestalten den Unterricht aktiv mit. Sie entscheiden eigenständig, was sie wann tun möchten und lernen durch viel Praxisbezug besonders schnell.“

Den Behörden ist das letztlich egal. Im Zuge staatlicher Sparmaßnahmen ist auch die Zukunft der Freien Kinderschule gefährdet: 1998 rechnen Eltern und LehrerInnen mit durchgreifenden Kürzungen bei den Pädagogenstellen. Und das, so meint Sabine Franke, „wäre dann wohl das Aus der Schule.“

Andreas Kuschnereit von der Schulbehörde entschärft diese Befürchtungen: „Es wird von verschiedenen Faktoren abhängen, ob es zu Kürzungen kommt.“Viel hänge zum Beispiel von der Anzahl der SchulanfängerInnen und der Teilnahme der SchülerInnen an den Nachmittagsprojekten ab.

Der achtjährige Malte macht sich darüber keine Gedanken. Die Kinderschule findet er klasse: „Ich spiele hier meistens Fußball. Und ich muß nicht so viel lernen wie andere Kinder.“ Janina Behrens