Biedermann und seine Zeiten

Serie: Wohnen im Wandel. Heute: Das 19. Jahrhundert. Von feudaler Prunksucht zu moderner Dekadenz oder Wie harte Lebensbedingungen gute Stuben kreieren  ■ Von Anja Karrasch

Begreift man die Entwicklung historischer Wohnformen als Spiegelbild ihrer Zeit, so denkt man bei einem Blick auf das 19. Jahrhundert unweigerlich an die biedermeierliche „gute Stube“. Doch bis der „mündige Bürger“ des 19. Jahrhunderts im Wohnsinne überhaupt in Erscheinung trat, spielten andere ihre altbekannten Rollen zunächst weiter.

Zwar hatte die Französische Revolution den gnadenlosen Machtanspruch des Adels, aber nicht wirklich seine politische Dominanz demontiert. Und die bestimmte zumindest bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts das Erscheinungsbild des hochherrschaftlichen Hauses. Wer es sich leisten konnte, richtete sich mit schweren und kostbaren Möbeln im klassizistischen Stil ein. In den streng gegliederten Gesellschaftsräumen des Stadtpalais oder der Villa trafen sich die gehobenen Schichten, um sich in vornehmem Rahmen ihrer gegenseitigen Wertschätzung zu versichern.

Die Repräsentation der eigenen Stellung in einer sich im Umbruch befindlichen Welt ging einher mit dem Festhalten an den höfischen Ritualen der feudalen Ständegesellschaft. Die unteren Schichten suchten Halt in der traditionellen Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die die Großfamilie unter einem Dach vereinte.

Dies änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die zunehmende Emanzipierung des Bürgertums, die industrielle Revolution, der schrittweise Übergang zu einer bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft – diese Umbrüche hatten massive Auswirkungen auf die Lebens- und Wohnwelten der Menschen.

Die Einführung der kapitalistischen Produktion führte zu einer Trennung von Berufs- und Privatsphäre. Die harten Lebensbedingungen „draußen“ förderten den Rückzug in die häusliche Idylle. Helle und freundliche Zimmer mit schlichten Möbeln, dem obligatorischen Sofa und gestickten Deckchen auf funktionalen Beistelltischen prägten das Erscheinungsbild der biedermeierlichen Wohnung.

Gern genommen waren auch Kabinettschränke und verglaste Vitrinen, in denen Nippes und Reiseandenken aufbewahrt wurden. Die liebevolle Pflege von Zimmerpflanzen ersetzte den traditionellen Gemüsegarten. Die „gute Stube“ avancierte zum Inbegriff bürgerlichen Wohnens. Und ließ zugleich Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Lage der zur Kleinfamilie geschrumpften Bewohner zu.

Die Gründerzeit reagierte auf die sich verschärfenden sozialen Gegensätze und politischen Veränderungen mit einem vehementen Rückgriff auf die Bauformen der Vergangenheit: Nach mittelalterlichen Vorbildern und der Renaissance errichtete man Burgen und Schlösser und frönte dem feudalen Lebensstil.

Das Bürgertum verließ die „proletarische Sphäre“ der Stadt, wo der Klassizismus das Gesicht der städtischen Wohnarchitektur bestimmte. Ein mächtiges, von Säulen flankiertes Eingangsportal mit Triumphbogen deutete auf den gesellschaftlichen Rang der Bewohner hin. Die sogenannte Beletage im ersten Stock war mit Erker, Balkonen und großen Fenstern ausgestattet und verfügte über sieben Zimmer und 3,50 Meter hohe Räume.

Der repräsentative Bereich der Gründerzeitwohnung bestand aus Salon, Bibliothek, Herren- und Speisezimmer. Der Salon war vollgestellt mit Rokokomöbeln und diente der leichten Konversation. Als Ausgleich sollten schwere altdeutsche Möbel den anderen Räumen Ernst und Würde verleihen.

Ihre Zimmereinrichtungen wählte das betuchte Bürgertum schon damals aus Möbelkatalogen aus, die sich dem Wunsch nach einem historisierenden Stilmix anpaßten. Die Stechpalme und der orientalische Teppich galten als der letzte Schrei im bürgerlichen Interieur und entsprangen als exotische Wohn-Accessoires der Bismarckschen Kolonialpolitik.

Der kleinbürgerliche Haushalt konnte von solcher Pracht nur träumen. Theodor Fontane beschrieb ihn in seinem Roman „Die Poggenpuhls“. „Von Plüschmöbeln existierte nichts und von Teppichen nur ein kleiner Schmiedeberger. Entsprechend diesem Teppich waren auch die schmalen, hier und dort gestopften Gardinen, aber ein weißlackierter Pfeilerspiegel mit eingelegter Goldleiste verlieh der ärmlichen Einrichtung immerhin den Hauch einer erlöschenden, aber doch mal dagewesenen Feudalität.“

Die Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 wirkte passend zur Jahrhundertwende gleichsam als Katalysator: Der Jugendstil wandte sich gegen die Stilmaskeraden der Vergangenheit und strebte die „Durchdringung des Lebens mit Kunst“ an. Geschäftsleute entdeckten die schmückende Extravaganz des neuen Stils.

Damals entwarf Henry van der Velde für den Zigarrenladen der Havanna-Compagnie in der Mohrenstraße die Ausstattung. Die aufwendige ornamentale Gestaltung der Möbel erreichte überwiegend das zahlungskräftige und für neue Strömungen aufgeschlossene Bildungsbürgertum. Und spielte deshalb für den Großteil der Bevölkerung keine große Rolle. Zweifellos ebnete der Jugendstil den Weg für die Entwicklung des modernen Möbels, das mit der Gründung des Deutschen Werkbundes und später durch das Bauhaus die Wohnwelt revolutionieren sollte.

Joachim Petsch, „Eigenheim und gute Stube. Zur Geschichte des bürgerlichen Wohnens“, DuMont 1989.

Karl Mang, „Geschichte des modernen Möbels. Von der handwerklichen Fertigung zur industriellen Produktion“, Hatje Verlag 1989.

Nächste Folge: Einstieg ins 20. Jahrhundert. Der Deutsche Werkbund als Vorläufer, das Bauhaus als Brennpunkt des modernen Möbeldesigns