Bratwurst, Folklore und Randale

■ Festumzug am Brandenburger Tor mit der Nationalhymne im Sambarhythmus. Amok-Lauf der Antimilitaristen mit Festnahmen. Momentaufnahmen vom regnerischen "Tag der deutschen Einheit"

Kalt fegt der Wind um die nackten Ecken der Friedrichstraße. Regentropfen schlagen ins Gesicht. An der Kreuzung Unter den Linden tragen Windböen Blasmusik und Sirenengeheul in die Fassadenschluchten. Der Lärm verhallt schnell, nur der Duft von Zuckerwatte, Bier und Bratenfett hält sich hartnäckig. 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit.

Zehntausende Besucher sind beim Festumzug am Brandenburger Tor. Ihr Staunen gilt einer wahrhaft föderalen Leistungsschau. Aus 16 Bundesländern und einigen Berliner Partnerstädten sind Folkloregruppen angereist, um Berlinern und Berlinbesuchern Landestypisches zu zeigen. Letztes Jahr säumten 250.000 Zuschauer das Einheitsfest. Verflixtes siebtes Jahr. War nur das Wetter schuld?

„Wir zahlen gerne – für die Fehler der Regierung“, trägt einer am Schloß Charlottenburg seine Losung vor dem Bauch. Andere zahlen ebenfalls gern – für die Rüstung, den Tiergartentunnel. Ironie der über Fünfzigjährigen? Die Jüngeren sind noch ernster. „Wir lachen heute das Militär aus“, tönt eine junge Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Am Schloß Charlottenburg ist der Tag der deutschen Einheit ein antimilitaristischer Tag. Machtvoll ist er freilich nicht. Nur etwa 1.000 sind gekommen, um vom Schloß zum Breitscheidplatz zu ziehen. Vergangenes Jahr waren es zehnmal so viele.

Vor der polnischen Botschaft Unter den Linden tanzen und singen die Musiker der peruanischen Musiktruppe „Tayta Iwtis“. Ihren eigentlichen Standort, den Alexanderplatz, haben sie verlassen. „Wir hoffen, hier ein besseres Geschäft zu machen“, sagt der Spendensammler der Gruppe.

Atemlos vermeldet Bernhard, einer der Aktivisten der KPD/RZ („Kreuzberger patriotischen Demokraten/Realistisches Zentrum“), am Breitscheidplatz die Schreckensnachricht: „Sieben“, sagt er. „Nicht vier?“ fragt eine Genossin. „Sieben“, wiederholt er. „Die Bullen haben die gesamte Parteiführung der KPD/RZ verhaftet.“ „Weshalb?“ „Handgranatenattrappen. Die behaupten, das wären Schlagwerkzeuge.“ Die Ironie der unter fünfzigjährigen Polizeibeamten ist pure Realität.

„Nun schau doch, den Punker.“ Die Touristin am Ku'damm rückt ihrer Mutter den Demonstrationszug ins Blickfeld. Die Mutter will davon nichts wissen. Sie ist beschäftigt. Als hätte sie einen Golfschläger in den Händen, befördert sie mit dem Krückstock einige Pflastersteine auf die Fahrbahn. Neben ihr zünden ein paar Jugendliche einige Taschentücher an und werfen sie auf die Fahrbahn. Eine Mitarbeiterin der Polizeipressestelle geht an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Marion Decker schlendert vergnügt mit Freundin Christine aus den Galeries Lafayette. Ein bißchen Brot und natürlich Käse haben sich die beiden gegönnt. Richtig feiern wollen sie diesen Tag nicht. „Wieso auch, für mich hat der 3. Oktober keinerlei Bedeutung“, sagt sie und zieht ihre Freundin Richtung Unter den Linden, wo sich langsam ein Spalier für den Festumzug bildet. In den Galeries Lafayettes bleiben Tausende von Touristen und ein überglücklicher Geschäftsführer zurück. „So viele Besucher“, freut sich Joseph Stoffer, „hatten wir nur bei der Eröffnung im Februar 1996.“

Markus Steiner, ein Nürnberger, ist mit seiner Freundin auf dem Weg zum Festumzug unter den Linden. Die beiden nutzten das Schnäppchenangebot der Bahn AG, um für zwei Tage preiswert in die Hauptstadt zu kommen. Tag der deutschen Einheit? „Für mich ist das ein freier Tag wie jeder andere auch“, sagt Markus Steiner. „Auf keinen Fall will ich aber zu Hause die Hände falten und denken, oh schön, wir sind vereinigt.“

Randale, melden die Nachrichtenagenturen. In der Nacht zum Tag der deutschen Einheit zerstörten Unbekannte 18 Autos eines Kreuzberger Opelhändlers. In der Friedrichstraße flogen Molotow- Cocktails, am Hackeschen Markt Steine. Kurze Zeit davor hatte die Polizei in der Rosenthaler Straße eine HipHop-Party aufgelöst.

13.20 Uhr, Brandenburger Tor. Trotz des einsetzenden Regens startet der Festumzug mit einer schmissigen Samba-Version der deutschen Nationalhymne, dem sich James Browns „I Feel Good“ anschließt. Alexander Eschment, Uwe Rada