■ Trotz der großen Zustimmung für Tony Blair in der Bevölkerung will der Labour-Linke Jeremy Corbyn nicht so schnell aufgeben
: Old Labour kommt bald zurück

taz: Wenn man den Meinungsumfragen glauben kann, stehen 93 Prozent der Bevölkerung hinter Blair. Sie sind „Old Labour“, wie das neue Schimpfwort lautet. Welche Bedeutung hat die Parteilinke bei „New Labour“ noch?

Jeremy Corbyn: Wir sind die Minderheit einer Mehrheit, aber eine sehr große Minderheit. Bei den Vorstandswahlen haben 40 Prozent der Parteimitglieder für Kandidaten der Socialist Campaign Group, den linken Labour- Flügel, gestimmt. Unsere Unterstützung hängt eng damit zusammen, was außerhalb der Partei läuft – zum Beispiel Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Studiengebühren, für höhere Renten und mehr Lohn für Krankenhauspersonal. Die Labour-Führung hat Angst vor uns. Deshalb auch die Strukturreform des Parteitags und der Vorstandswahlen. Man will die Parteilinke marginalisieren.

Das wird doch auch funktionieren, oder? Sie haben diesmal die Wahl in den Vorstand nur knapp verpaßt, Ken Livingstone, Diane Abbott und Dennis Skinner von der Socialist Campaign Group sind gewählt worden. Doch im nächsten Jahr wird es keiner von Ihnen schaffen.

Im nächsten Jahr ist die Sache komplizierter, weil Abgeordnete sich nicht mehr von den Parteimitgliedern, sondern von den anderen Abgeordneten in den Vorstand wählen lassen müssen. Das schafft natürlich keiner von der Socialist Campaign Group. Aber wenn die Mitglieder in ihren Wahlkreisen sich auf linke, regionale Kandidaten einigen, werden sie sehr gut abschneiden, da bin ich sicher.

Aber die kennt überregional kaum jemand, ihr Einfluß auf die Parteipolitik wird gering bleiben, die Parteilinke wird noch ohnmächtiger, oder nicht?

Es ist schon erschreckend, daß immer mehr Macht auf die Parteiführung übertragen wird. Das zeigt, daß man die Debatte innerhalb der Partei unterdrücken will. Aber sie wird dennoch stattfinden, und die Parteiführung kann sie auf Dauer nicht ignorieren. Die Debatte soll unterbunden werden, ganz nach dem Vorbild der Demokratischen Partei in den USA. Die existiert zwischen den Wahlen praktisch nicht. Aber es gibt einen Unterschied: Die Labour Party ist ein großer Apparat, der nicht so leicht von oben zu kontrollieren ist. Ich bin meinen Wählern zur Rechenschaft verpflichtet und nicht der Parteiführung, die eine sich selbst erhaltende Politikmaschine geschaffen hat.

Welche Zukunft sehen Sie für sich in der Labour Party?

Ich werde die Partei auf keinen Fall verlassen. Die Vorstandswahlen haben gezeigt, daß diejenigen, die die Socialist Labour Party gründeten, voreilig waren. Ich werde aber auch mit den Initiativen außerhalb der Partei zusammenarbeiten. Ich bin davon überzeugt, daß auch die Gewerkschaften wieder aktiver werden. Spätestens beim Thema Mindestlohn wird es Konflikte geben. Und Europa ist auch ein wichtiges Thema. Die Währungsunion wurde auf dem Parteitag kein einziges Mal erwähnt, auch nicht in Tony Blairs Rede. Dabei werden die Maastricht-II-Kriterien entscheidende Auswirkungen auf die Ausgabenpolitik der Regierungen haben. Um die Kriterien zu erfüllen, müssen die öffentlichen Ausgaben weiter gekürzt werden. Wir benötigen ein europaweites Netzwerk, das für den Wohlfahrtsstaat kämpft.

Nicht nur die Währungsunion fehlte in Blairs Rede. Er hat eine Stunde gesprochen. Was hat er eigentlich gesagt?

Die Rede war blutleer. Er ist keine konkreten Verpflichtungen eingegangen. Interessant war jedoch sein Hinweis auf eine Verbindung mit den Liberalen Demokraten. Blair glaubt an die Notwendigkeit einer Partei der Mitte. Die Liberalen haben eine merkwürdige Position: Viele ihrer Wähler sind rechts, aber im Wahlkampf hat die Partei durchaus vernünftige Sachen gesagt, zum Beispiel was den Mindestlohn angeht. Eine Koalition mit den Liberalen wäre dennoch sehr gefährlich. Sie würde ebenfalls dafür genutzt, die Linke in der Labour Party zu marginalisieren.

Wenn Sie Blairs Rede geschrieben hätten, welche Punkte wären darin vorgekommen?

Ich hätte die Schere zwischen Arm und Reich angesprochen, die immer größer wird. Eine große Zahl von Menschen lebt am Rande unserer Gesellschaft, und zwar nicht nur die auffälligsten, die Obdachlosen auf den Straßen. Wir müssen die Mittel für den Wohlfahrtsstaat aufbringen. Die Tories sind eine verbrauchte Kraft, vielleicht sogar für immer. Aber ihre Steuer- und Ausgabenpolitik lebt in der Labour Party weiter. Die Industrie hatte in den vergangenen zehn Jahren ein Paradies, die britische Körperschaftssteuer ist die niedrigste in Europa. Wir brauchten von Blair keine Lehrstunde im globalen Wettbewerb. Wir müssen die Macht der multinationalen Konzerne zurückdrängen, und dabei könnte Labour eine wichtige Rolle in der Welt spielen. Andere Punkte, die ich in die Rede geschrieben hätte: Mehr Macht für die UN und nicht für den IWF. Abbau der Rüstungsausgaben. Wenn wir sie auf den europäischen Durchschnitt senken, würden wir sieben Milliarden Pfund einsparen. Und natürlich ein Ende der Atomwaffen.

Inwieweit kann die Labour Party Einfluß auf die europäische Politik nehmen, zum Beispiel was die Beschäftigungspolitik angeht? Und wie steht es mit dem Verhältnis zu den anderen sozialdemokratischen Parteien?

Jospin hat dem Europäischen Rat einen Vorschlag zur Beschäftigungspolitik vorgelegt. Es war nicht Kohl, der ihn verwässert hat, sondern Tony Blair, und Kohl hat dazu geklatscht. Die britische Labour Party war die letzte in Europa, die sich offiziell vom Sozialismus verabschiedet hat, als sie vor drei Jahren die „Clause Four“ gestrichen hat, die das öffentliche Eigentum an den Produktionsmitteln festschrieb. Angefangen hat es 1948 bei den italienischen Wahlen, danach kam 1959 das Godesberger Programm der SPD, und dann zogen die anderen sozialistischen Parteien nach. Deren derzeitige Parteiführungen treten allesamt für die freie Marktwirtschaft ein, die traditionelle Politik der Staatsintervention lehnen sie ab. Aber das deutsche Beispiel hat gezeigt, daß das nicht unbedingt funktioniert. Die SPD ist immer weiter nach rechts gerückt, aber sie ist nicht an die Macht gekommen. Die britische Labour Party hat die Wahlen nicht gewonnen, weil Blairs Politik so populär ist. Sicher, manche fanden das attraktiv, aber wir hätten auch mit einer radikaleren Politik gewonnen. Die Menschen hatten einfach die Nase gestrichen voll von den Tories. Interview: Ralf Sotscheck