Volksmusik für Unverkrampfte

■ Das Dieter Ilg Trio verpaßte alten Volksliedern neue Gewänder

In anderen Ländern ist das Aufgreifen volksmusikalischer Traditionen im Jazz keine Seltenheit. Insbesondere französische, skandinavische und italienische JazzerInnen widmen sich nicht selten dem eigenen musikalischen Erbe. Hierzulande hat die Erfahrung des nationalsozialistischen Mißbrauchs, die Pervertierung von Volkstümlichem zu Volkstümelndem, einen Bruch hinterlassen. Darüber hinaus steht die verbreitete tumbe Schunkelseligkeit a la Musikantenstadl einem unbefangenen Zugriff auf volksmusikalische Traditionen im Wege. Daß andere Formen der Annäherung zu sehr schönen Resultaten führen können, bewies das Trio des Bassisten Dieter Ilg am Freitagabend im KITO auf beeindruckende Weise.

Gemeinsam mit dem britischen Drummer Steve Argüelles und dem österreichischen Gitarristen Wolfgang Muthspiel transformierte der Freiburger bekannte und weniger bekannte Volksweisen in klangfarbenprächtige Preziosen. Oft waren es nur kurze Melodiesequenzen oder -fragmente, die das Trio zum Ausgangspunkt feinfühliger, ideenreicher Improvisationen machte. Denn Ilg & Co begnügten sich nicht damit, den überlieferten Melodien einen jazzigen Rhythmus zu verpassen und das Tempo ein bißchen anzuziehen. Vielmehr zerlegten sie die melodischen und harmonischen Strukturen, verkürzten oder dehnten das thematische Material, nahmen es als Basis zur Entwicklung assoziativer Klangketten. So hüllten die drei virtuos agierenden Musiker Lieder wie „Frère Jacques“, „Im Märzen der Bauer“oder „Der Mond ist aufgegangen“in neue musikalische Gewänder, in denen sie eindrucksvolle Spannungsmomente zwischen vertrauten Tönen und Neuschöpfungen gestalteten.

Dabei trug besonders Steve Argüelles' komplexes und differenziertes Trommeln zur Verfremdung bei. Der in Paris lebende Brite spielte nicht nur mit rhythmischen Mustern, sondern auch mit Klangfarben und Stimmungen. Mit Händen, Besen und Sticks ließ er es mal relaxt swingen, rockte ordentlich los oder baute vertrackte poly-rhythmische Strukturen auf. Dieter Ilg zeigte eine Vorliebe für weich fließende Baßlinien, ließ seine Saiten singen und sorgte für eine wunderschön warme Grundstimmung. Der in den 80ern durch seine Zusammenarbeit mit Randy Brecker bekannt gewordene Süddeutsche bewies nicht nur in seinen ideenreichen Soli, warum er heute zu den versiertesten europäischen Jazz-bassisten zählt. E-Gitarrist Wolfgang Muthspiel sorgte hin und wieder für jazzrockige Akzente im Klangbild, überraschte aber auch mit spanisch anmutenden oder fast zitherartigen Klängen.

Der Österreicher gehört zu den wenigen europäischen Gitarristen, die sich auch in den USA etablieren konnten. Wie seine beiden Kollegen agierte er äußerst differenziert, nutzte technische Verfremdungsmöglichkeiten, ohne sich in vordergründigen Spielereien zu verlieren. Ilgs „Folk Songs“, so der Titel des Programms, ermöglichen einen ganz neuen, ungemein spannenden Zugang zu bekannten Volksliedern, der Lust auf mehr macht. Die kann vorerst durch die bei Jazzline erschienene, gleichnamige CD gestillt werden, ein schönes Geschenk für gute Freunde. Arnaud