Alte Zeiten, neue Uhren

■ „Andere Zeiten“ in der Literatur des Südens? Auf der „INTERLIT 4“ vom 2. bis 12. Oktober in Erlangen diskutieren 23 AutorInnen aus dem Trikont über die Perspektiven ihrer Literatur

Die INTERLIT ist ein einzigartiges Unternehmen im deutschsprachigen Raum. Wole Soyinka und Derek Walcot waren seinerzeit bereits eingeladen, lange bevor sie für den Nobelpreis nominiert worden waren. Und namhafte Dichter wie Lorna Goodison (Jamaica), Aziz Nesin (Türkei), Gioconda Belli (Nicaragua) oder Francis Bebey (Kamerun) hatten teilgenommen, bevor sie ins Deutsche übersetzt worden waren.

Aber INTERLIT ist mehr als ein Ort literarischer Entdeckungen aus Asien, Afrika und Lateinamerika, ist mehr als eine literarische Börse. Sie ist vor allem ein Ort der Begegnung unterschiedlicher kultureller Welten, eines der wenigen Foren in Deutschland, auf dem ein direkter Dialog zwischen Nord und Süd geführt wird.

Schon die quantitativen Dimensionen dieses Dialogs sind äußerst beeindruckend. Mit über 120 Schul- und Abendlesungen konnten 1988 und 1993 jeweils rund 10.000 Zuhörer erreicht werden, die Konferenzforen waren mit 240 Teilnehmern pro Veranstaltung besucht – das Interesse geht weit über den kleinen Kreis hochspezialisierter Fachleute hinaus. Auch heute finden wieder unter dem Thema „Andere Zeiten“ rund 90 Veranstaltungen im Großraum Erlangen statt, 23 Autoren sind eingeladen, um den Kongreß herum werden sechs Ausstellungen und eine umfangreiche Filmreihe gezeigt.

Das Thema „Andere Zeiten“ ist ebenso allgemein wie vieldeutig. Das Schlagwort von der Jahrtausendwende, der oberflächliche Hinweis auf das Kalenderjahr – 1997 nach unserer, 1418 nach islamischer oder 5757 nach jüdischer Zeitrechnung – sagt am wenigsten darüber aus. Die Welt zerfällt in viele Welten, und jede dieser Welten hat ihre Zeiten.

Andererseits gibt es keine authentischen Kulturen mehr, die sich für sich betrachten lassen. Die Weltenfragmente befinden sich im Schwitzkasten der fortschreitenden Globalisierung, die lokale Kulturen aus ihrem Kontext herauslöst und zum zunehmenden Verlust sozialer und regionalkultureller Identität führt. Der trotzig-aufbegehrende und selbstbewußte Ton der Selbstdefinition in den siebziger Jahren, wie er oft bei den älteren afrikanischen Autorinnen anklingt, hat sich gelegt. Auch bei Schriftstellern, die der traditionellen regionalen Literatur verhaftet sind, spürt man Unruhe und Besorgnis über undurchschaubare „moderne“ Vorgänge.

Auf eine Dimension kommen viele der Autorinnen zu sprechen. Wenn sie von „ihren Zeiten“ berichten, wie etwa Raschid al-Daif aus dem Libanon oder Syl Cheney- Coker aus Sierra Leone, dessen Emigration ihn bereits über den halben Erdball geführt hat, dann meinen sie die Zeiten des Krieges, die Zeiten politischer Unterdrückung – mehrere Autorinnen leben im Exil wie Emile Olivier aus Haiti oder Essma'il Cho'l aus dem Iran. Und das Motto „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“, ein Sprichwort aus Haiti, wird nicht bloß in seiner Beschaulichkeit genommen – sondern auch bitter kommentiert. Ihr habt die Uhren, die Technologie, die Macht, ihr bestimmt, was wann passiert, während uns immer mehr die Zeit davonläuft, unser Rückstand immer größer und immer weniger aufholbar wird.

Es wird in der Trikontliteratur gegenüber früheren Zeiten weniger – oder scheinbar weniger – politisiert. Eine Reihe von Autorinnen vermitteln auf der INTERLIT eher ein Bild des Alltags in ihren Kulturen, oft wahrlich wundersam erzählt. Doch geht es immer noch auch darum, die Fiktionen der Eroberer und Kolonisatoren über die eroberten Länder zu brechen, die eigene Geschichte zu formulieren, in Abgrenzung gegenüber Europa und den USA die eigene Identität zu definieren. Sich selbst neu erfinden, dazu hat zum Beispiel der magische Realismus einiges beigetragen, erklärte die chilenische Literaturwissenschaftlerin Patricia Cerda-Hegerl. Aber, führt sie weiter aus, er habe auch eine romantische und intelligente Verschleierung der Unterentwicklung Lateinamerikas betrieben. Aus dieser Kritik heraus ist die Suche nach neuen Formen und Schreibweisen zu verstehen: der Schritt zur Postmoderne, zur Posthistorie, zum neuen historischen Roman, zur Metropolenliteratur.

Spätestens hier hören die guten alten Zeiten auf, mit der Entwicklung zum globalen Dorf setzt sich auch in Punta Arenas, Timbuktu und Allahabad die Zeit von London und New York durch. Aber bedeutet das, daß „die Zeit“ auf die Vereinheitlichung der Trikont- literaturen mit den Literaturen der hochentwickelten Länder zu einer „Globalliteratur“ hinarbeitet?

Fast beschwörend heiß es in den Arbeitsthemen der Kongreßforen: „Auch die Zeit braucht einmal Pause“ oder „Die andere Zeit der Poesie“. Letztlich wird man sich beim Forum „Aufbruch in die Zeiten“ fragen müssen, in welche Zeiten und mit welchen Auswirkungen auf die Literatur. Sogar Befürchtungen von einer letzten Bestandsaufnahme wurden geäußert, die gemacht werden muß, „bevor alles eingeschmolzen wird“. Balduin Winter

Auskünfte über die INTERLIT 4 in Erlangen: INTERLIT e.V., Susanne Gumbmann, Einhornstraße 2, 91054 Erlangen, Tel. (09131) 86-2155, Fax -2717.

Vom 9. bis 12.10. findet die INTERLIT 4 in Berlin mit verschiedenen Lesungen und einem Symposium am 11.10. statt. Auskünfte: Haus der Kulturen der Welt, Dr. Beate Endriss, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, Tel. (030) 39787-101 und -123, Fax (030) 394 86 79