Vergangenheit ausknipsen

Begehren und Verzehren: Die Kroatin Slavenka Drakulić hat einen sehr blutrünstigen Roman geschrieben. „Das Liebesopfer“ erinnert an Peter Greenaways Filme  ■ Von Jörg Magenau

Mit Büchern aus dem einstigen Jugoslawien ist es so ähnlich wie früher mit der DDR-Literatur: Man klopft sie unwillkürlich nach verborgenen Botschaften ab, nach Hinweisen über Ursachen und Folgen des Krieges. Auch der Roman „Das Liebesopfer“ der Kroatin Slavenka Drakulić läßt sich als Reaktion auf die Erfahrung des Krieges und des gesellschaftlichen Zusammenbruchs lesen – obwohl er weit entfernt in New York spielt. Die Eingangssequenz, in der die Ich-Erzählerin, eine junge polnische Doktorandin, ihre Wohnung in der Lower East Side von den Spuren einer Bluttat säubert, wirkt wie eine Parabel auf die jüngste Geschichte: Ein Mord ist geschehen, nüchtern und pragmatisch werden nun Aufräumarbeiten absolviert. Es gibt keine Reue, kein Schuldgefühl – man muß töten, was man liebt.

Schon nach wenigen Seiten ist klar, was geschehen ist: Die Polin hat ihren brasilianischen Geliebten José ermordet und zerstückelt und Teile seiner Leiche auf New Yorker Müllhaufen verstreut. Sie berichtet von ihrer Tat so kühl und rational, als sei es nur konsequent, den Geliebten umzubringen und sein Fleisch zu verspeisen. Das ist kein Kriminalroman mit beruhigender Kausalitätsordnung, sondern ein Liebesroman, in dem das Irrationale triumphiert: Der Wahnsinn hat gute Argumente.

Die Erzählung rekapituliert die 76 Tage andauernde Beziehung, die von der ersten Begegnung in der Public Library, bei der ein Buch über Kannibalismus wie ein Menetekel im Mittelpunkt steht, bis zum letzten Blick auf den schon verwesenden, abgetrennten Kopf des Geliebten eine einzige Verschmelzungssehnsucht ist. Obwohl man das schreckliche Ende von Anfang an kennt, ist das spannend zu lesen: als Thriller über die Gewalt des Erotischen, als Psychoanalyse der Leidenschaft, als Reflexion über das Vernichtungspotential der Liebe.

In Deutschland ist Slavenka Drakulić vor allem mit Reportagen über den Kriegsalltag in Jugoslawien bekannt geworden. Als Journalistin hatte sie in ihrer kroatischen Heimat immer größere Schwierigkeiten, Texte zu veröffentlichen. Weil sie Franjo Tudjman und dem kroatischen Nationalismus kritisch gegenüberstand, sah sie sich Diffamierungskampagnen ausgesetzt. Deshalb ging sie ins Ausland und lebte unter anderem in New York. Die Erfahrung der Fremdheit in einer anderen Kultur und Sprache grundiert nun ihren Roman. Die zerstörerische Selbstbezogenheit der beiden Liebenden ist so wohl nur auf neutralem Boden möglich, wo Sprache, Herkunft und Geschichte von Anfang an ausgeschlossen bleiben. Was zählt, ist das Hier und Jetzt; Begierde ist absolut und sucht Erfüllung in unendlicher Gegenwart.

Englisch ist für beide eine mühsame Fremdsprache, und so funktioniert die Verständigung von Anfang an über die Sprache des Körpers. Es geht um Haut und Haar, um eine bedrohliche Nähe „bis auf die Knochen“ und „bis in den Tod“. Wer so verzehrend begehrt, muß alles Trennende ausschließen. Das ist nicht weniger als die ganze Vergangenheit und die ganze Zukunft. Daß José zu seiner schwangeren Frau und seinem Sohn nach Brasilien zurückkehren wird, muß ebenso verdrängt werden wie die Rückkehr der Erzählerin in ihre osteuropäische Heimat. So leben die beiden zurückgezogen in ihrer Wohnung am St. Marks Place, „isoliert wie zwei verzweifelte, umzingelte Terroristen“, umstellt von der verstreichenden Zeit – bis José sich in eine finale Lethargie rettet und die Erzählerin zu Messern und Säge greift, um der Vergänglichkeit und den Ansprüchen des Lebens zu Leibe zu rücken.

Eine kleine Schwäche des Romans besteht in der unbegründeten Erzählperspektive. Wem berichtet die junge Frau von ihrer Tat? Führt sie ein Selbstgespräch? Wem legt sie Rechenschaft ab? Die Geschichte, die gekonnt Liebes- und Kochkunst, Begierde und Verzehr verkoppelt, erinnert in ihrer kannibalischen Drastik und der Ästhetisierung des Schreckens an Peter Greenaways Film „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“. Die detailfreudig erzählte Leichenzerstückelung läßt an Ian McEwans Roman „Unschuldige“ denken. Der besondere Reiz in Drakulić' „Liebesopfer“ besteht jedoch im scharfen Kontrast zwischen der klaren, schnörkellosen Sprache und der Ungeheuerlichkeit des Geschehens. Diese Kunst hat Drakulić bereits in ihren Kriegsreportagen erprobt. Auch da war der kontrollierte, nüchterne Stil ein Mittel, um nicht aus der Fassung zu geraten. Immer wieder findet sie treffende Metaphern und Sätze, die ganze Abschnitte komprimieren. Etwa wenn es heißt: „Man mußte die Vergangenheit vergessen oder, noch besser, sie ausschalten. So wie man in der Wohnung den elektrischen Strom ausschaltet, und es wird plötzlich ganz dunkel.“

Drakulić stattet ihre Ich-Erzählerin mit einem scharfen Bewußtsein aus. Sie weiß jederzeit genau, was sie tun muß, und warum sie so handelt. Sie reflektiert über Tod, Zeit, Erinnerung, Sprache, Genuß und Liebe, und das Erschreckende ist: Man kann ihr dabei sehr gut folgen. Die Mörderin erscheint menschlich, klug und konsequent. Nicht ihre Tat schockiert, noch nicht einmal der Genuß und die Erfüllung, die sie darin findet. Der Moment, in dem man sich von ihr abwenden muß, ist erst das rituelle Abschneiden und Verzehren der Fingerkuppen des toten Geliebten. Kurz darauf blickt die Erzählerin in den Spiegel und begegnet sich mit blutverschmiertem Mund wie einem Raubtier. Aber das ist nur ein kurzer Moment des Erschreckens. Am Ende befindet sie sich im Flugzeug auf dem Weg nach Warschau. In wenigen Stunden wird sie in der osteuropäischen Normalität landen. Die New Yorker Wohnung ist gründlich gereinigt.

Slavenka Drakulić: „Das Liebesopfer“. Aufbau Verlag, Berlin 1997, 240 S., 36 DM