120 km Sehnsucht und Schock

■ Follow Me –Britische Kunst an der Unterelbe: Ein Blick stromabwärts

In suchender Bewegung erstarrt stehen sie im Wattenmeer, blicken fragend zum Horizont, der sich je nach Ebbe und Flut über schäumendem Meer oder schlammiger Ebene verliert. Verloren scheinen diese lebensgroßen Eisenfiguren, doch nicht allein: In Abständen von 50 bis 250 Metern trotzen 100 solcher Abgüsse eines stilisierten nackten Männerkörpers den Elementen in der Sehnsucht nach einem neuen Aufbruch. In ihrer Wechselwirkung mit der Landschaft und den wattwandernden Menschen ist diese Endzeitvision des Londoner Künstlers Anthony Gormley die beeindruckendste des raumgreifenden Kunstprojekts Follow me. Acht Kunstinstitutionen, die auf den 120 Kilometern von Hamburg bis Cuxhaven moderne Kunst ausstellen, haben sich erstmals zusammengeschlossen, um ein Spektrum junger englischer Kunst zu zeigen.

Kurator ist Eckhard Schneider, der Leiter des Kunstvereins Hannover. Er wählte die Londoner Kunstszene, weil er sie für die zur Zeit interessanteste überhaupt hält. Und das bestätigt sich durchaus an den einzelnen Stationen der empfehlenswerten, pointierten Kunstreise.

Zu ihren unterschiedlichen Positionen zwischen extremem Körpereinsatz und distanzierter Abstraktion haben die Künstler und Künstlerinnen neue Arbeiten dem lokalen Ambiente angepaßt. Dem jüngsten Teilnehmer der Auswahl, dem durch die Arbeit mit Körpersekreten bekannt gewordenen Marc Quinn, gelingt es auch in der Mühle des Freiburger Kunstvereins zu schockieren: Im alten Gebälk hängen eine gelbe Verpuppung und blutrote Polyuretanhäutungen eines menschlichen Körpers.

Das ist meilenweit entfernt von der Kunstauffassung Alan Charltons. Der ausschließlich mit grauen Bildern arbeitende Konzept-Maler, bespielt den modernen Dachraum des Museums in Otterndorf mit einer kontemplativen Reihung schmaler Bildobjekte. Auch Julian Opies real verwirrende, erst im Computerausdruck überschaubare Blockkonstruktionen im „Studio 1“in Deinste und Michael Craig-Martins aggressiv bunte Wandmalerei, mit der der Raum für sakrale Kunst im Buxtehuder Museum verändert wurde, zeigen die ungebrochene Aussagekraft einer in ein Konzept eingebundenen Malerei.

Der dritte Aspekt der Londoner Szene neben Schock und Tradition ist die Spiritualität aus dem Osten. In Verbindung mit den Konzepten von Donald Judd und Barnett Newman wurde sie zur neuen, internationalen Formensprache entwickelt. So zeigt die Iranerin Shirazeh Houshiary in Schloß Agathenburg Reflexionen in Plastiken, und der in Indien geborene Anish Kapoor hat ein Schiff im Stader Hafen zu einem Lichtfänger umgebaut: ein Hohlspiegel wendet das Licht und ein 2,70 Meter tiefer, rostiger Trichter schluckt es in den verschlossenen Laderaum des untätig verankerten Küstenmotorschiffes.

Hajo Schiff

Cuxhaven: Anthony Gormley. Museum moderner Kunst – studio a, Otterndorf: Alan Charlton. Kunstverein Kehdingen, Freiburg an der Elbe: Marc Quinn. Stade: Britische Skulpturen 1945-1965 im Schwedenspeicher-Museum, Anish Kapoor auf MS Greundiek im Stader Hafen. Art Studio 1, Deinste: Julian Opie. Schloß Agathenburg: Shirazeh Houshiary. Buxtehude Museum / Kunstverein Buxtehude: Michael Craig-Martin. Alle bis 31. Oktober. Katalog, 200 S., 48 Mark.