Erst kommt das Fressen, dann ...

■ „mundgerecht“: ein Projekt von Tonia Kudrass, Anette Venebrügge und Thomas Stordel

Morgens mehr als fünf Minuten zu spät und es ertönt der freundlich- vorwurfsvolle Gruß „Mahlzeit!“. Und ab 11.30 ist es dann soweit: die Kantinen öffnen zu Nahrungsaufnahme und informellem Gedankenaustausch.

Das Künstlerprojekt „mundgerecht“der HamburgerInnnen Tonia Kudrass, Anette Venebrügge und Thomas Stordel hat diese Räume jetzt als dringend kunstbedürftig entdeckt und vier davon mit Arbeiten von insgesamt zehn Künstlerinnen und Künstlern bestückt. So konnten am Mittwochabend über fünfhundert von Ort zu Ort gefahrene Vernissagengäste künstlerische Intervention, Fragen und Kulinarisches goutieren.

Der Erfolg dieses Abends verdeckte jedoch die tiefgreifenden Unterschiede, die zwischen dem Kunstpublikum und den Firmenhierarchien bestehen. So blieb es rätselhaft, warum die Erinnerungsarbeit von Boris Nieslony in den Unternehmen auf einen derartigen Widerstand stieß, daß selbst in der mit Kunstsponsoring viel befaßten Siemens AG ein mittelschwerer Aufstand dagegen losbrach. Es ist ein festlich gedeckter Tisch mit einer Rose, einem Bilderrahmen und einem Objekt eines Verstorbenen nach persönlicher Wahl der Mitarbeiter, der jeweils für einen Tag zur Erinnerung nur für den imaginärer Gast reserviert ist.

Mit Ab- und Anwesenheit spielt auch die raumgreifende Installation von Tonia Kudrass: Über alle 356 Stuhllehnen des Speisesaals sind Jacketts gehängt. In unterschiedlichen Gruppen, samten, dunkelblau oder schwarz, ist schon im leeren Zustand alles „besetzt“. Da wundert es auch nicht mehr, daß sich zwei übergroße Teller wie von Geisterhand mit grüner Suppe füllen und leeren: eine Apparatur, die Thomas Stordel aufgebaut hat.

Anders als in revolutionären Zeiten, als dynamische Gemälde die Belegschaft zu Aufbauleistungen motivieren sollten, arbeitet heutige Kunstintervention mit kleinen Veränderungen täglicher Wahrnehmung. Volksweisheiten über das Essen ersetzen die Vorhänge, Chinesische Rezepte werden leise über die Tonanlage verlesen, alternative Berufsbezeichungen tauchen auf den Tischsets auf, kleine Betonflakons tragen seltsame Botschaften und Fotoserien zeigen lustige Schweinchenfiguren aus dem Schlachterladen. Sabine Mohr wollte sich damit nicht begnügen: Sie veranlaßte einzelne Gruppen, einmal ein anderes Casino der teilnehmenden Firmen zu besuchen. Auf zum Kantinentourismus!

Hajo Schiff

Zugang nur mit Führung: Kantinen Ziviljustizgebäude, Deutsche Unilever und Hanse-Merkur-Versicherung: morgen 11 Uhr (Treffpunkt vor der Verwaltung Deutsche Unilever, Damtorwall 15); Kasino der Siemens AG, Lindenplatz 2: Samstag 18. Oktober, 11 Uhr