Subtil sprengende Vagheiten

■ Siri Hustvedt stellt ihren faszinierenden zweiten Roman „Die Verzauberung der Lily Dahl“in Hamburg vor

Ideal Café ist zweifelsohne ein euphemistischer Name für den kleinen Diner in der Division Street. Sechs Tage die Woche bringt Lily Dahl hier von morgens um fünf bis zum Mittag Doughnuts und Rühreier unter die Menschen, für die diese Bezeichnung genau genommen nicht minder schönfärberisch ist. Weirdos sind sie allesamt, Stammelnde, Stinkende, Kontaktkrüppel, deren immergleiches Frühstücksritual ihre einzige Verbindung zur Welt ist. Diese Welt heißt Webster, Minnesota, zu deutsch: unbedeutende amerikanische Kleinstadt. Leben bedeutet hier Tag-Nacht-Wechsel, bestenfalls: Wenn man wie Lily 19 ist und von einer Schauspielkarriere träumt, ist eigentlich alles grau. Kein Wunder, daß sie weg will. Und eigentlich auch kein Wunder, daß sich einer der Stammgäste im Ideal Café in der Division Street eines schönen, unbedeutenden Morgens mit 'ner 45er den Kopf wegbläst.

Siri Hustvedts Die Verzauberung der Lily Dahl ist ein Thriller ganz eigener Art. Im Gegensatz zum ersten Roman der Amerikanerin, dem nicht zuletzt deshalb soviel Aufmerksamkeit zuteil wurde, weil er Paul Auster gewidmet und dieser smarte Herr ihr Ehemann ist , steht Lily Dahl auf eigenen literarischen Füßen. Die unsichtbare Frau (1992) wirkte in der Schilderung zahlreicher erotischer Abenteuer einer New Yorker Studentin zerfleddert und in der Verbindung von Bett und Bibliothek oft bemüht. Der zweite Roman, für den sich Hustvedt vier Jahre Zeit nahm, baut dagegen über 300 Seiten kontinuierlich einen ebenso subtilen wie unwiderstehlichen Untersog auf. Die Koordinaten Kleinstadt/ Lust auf Leben/ Gefahr sind nur grobe Eckpfeiler, innerhalb derer die 42jährige Autorin – selbst in Minnesota geboren, heute in Brooklyn lebend – ein diffiziles Geflecht unterdrückter Sehnsüchte, realisierter Fiktionen und anderer sprengender Vagheiten entwirft.

Lily lebt über dem Ideal Café. Der Blick aus dem Fenster fällt auf das Stuart Hotel, eine billige Absteige, in der seit ein paar Wochen ein New Yorker Maler lebt und arbeitet. Ed Shapiro, von seiner Frau verlassen und von Gerüchten umgeben, fasziniert Lily in seiner Fremdheit derart, daß sie ihn Nacht für Nacht observiert und schließlich verführt. Doch die Verführungsszene – Lily entkleidet sich im erleuchteten Fenster – ist nicht, wie viele männliche Rezensenten glauben machen wollen, die Schlüsselszene des Romans und der Beziehung. Es geht um weit mehr als erotische Phantasien und Projektionen. Schon vier Stunden nach ihrem ersten Beisammensein kommt Shapiro ins Café und sagt: „Ich habe dich vermißt.“Das ist ihr Höhepunkt, und im Grunde ist er damit auch überschritten.

Lily erkennt bald, daß die künstlerische und intellektuelle Welt des Malers ihr verschlossen bleibt. Das trifft sie um so härter, als auch die Rolle der Hermia, die sie in der örtlichen Laientheatergruppe übernahm, ihr fremd bleibt, während ihre alte Nachbarin, die Schriftstellerin Mabel, Shapiros Modell wird. Das Mädchen beginnt, sich in jene rätselhafte Gegenwelt abzusetzen, die „Realität Kleinstadt“heißt und bald fiktiver und verstörender als alle Kunst New Yorks ist. Die süße Verzauberung wird zur bedrohlichen Entzauberung. Am Ende geht Lily nach New York, allein, erwachsen. Christiane Kühl

Siri Hustvedt: „Die Verzauberung der Lily Dahl“, Rowohlt 1997, 288 Seiten, 39.80 Mark Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38