Out: Das Tamagotchi

■ In Japan wurde die obsessive Betreuung des quäkenden Elektroeis längst vom leidenschaftlichen Sammeln kitschiger Klebefotos abgelöst

Erleichtert fällt der Vater in seinen Sitz. Der Flug beginnt. Endlich kann er sich wieder um sein hungriges Silizium-Baby kümmern. Denn Tamagotchi schreit, und die anderen Fluggäste schauen bereits völlig entnervt zu ihm herüber.

Fast überhört er die freundliche Stimme der Stewardeß, die ihm mitteilt, daß elektronische Spiele aller Art zu unterlassen sind. „Fräulein“, beschwert er sich, „was heißt hier elektronische Spielzeuge, mein Tamagotchi hat Hunger.“

Die Stewardeß informiert die Piloten, die den Vater daraufhin ins Cockpit bitten. Auch sie wollen den Nachwuchs kennenlernen, fachsimpeln eine Weile über die Aufzucht der empfindsamen Wesen vom anderen Planeten, während der junge Mann die Aussicht bestaunt, bis man in Deutschland landet.

Immer wieder entfacht die unscheinbare und liebesbedürftige „Eieruhr“ einen Gefühlsrausch, der auf manche Zeitgenossen regelrecht beängstigend wirkt. Bei Kaiser's um die Ecke kann man sie inzwischen auch kaufen, und in der deutschen Tamagotchi- Mailingliste der Berliner Kulturbox rätseln die Besitzer über die nächste Generation und andere Formen wie Angel-Tamagotchi.

Doch der Schein trügt. Was hierzulande noch relativ unbekannt ist, ist im Tamagotchi-Mutterland schon nicht mehr zu übersehen: Der eigentliche Boom ist vorbei. Das schlimmste Tamagotchi-Fieber haben die Japaner hinter sich. Schließlich gab es in Tokio das Ei schon in allen Variationen und an jeder Straßenecke, als man hierzulande seinen Namen noch nicht einmal richtig schreiben konnte.

Selbst Tamagotchi-Handys mit dem schönen Namen Tamappitchi werden längst verkauft: Ruft ein netter Mensch an, erscheint ein lustiges Tamagotchi auf dem Display, ist es allerdings der Chef, präsentiert sich eine häßliche, dumme Fratze. Doch Japan hat nie nur einen Boom, und Tamagotchi gibt es bereits seit einem Jahr.

Wofür geben die konsumwütigen japanischen Schulmädchen und Office Ladies auf der Suche nach dem Kick und dem Wunsch, hip zu sein, jetzt ihr Geld aus? Der Printclub hat das Rennen gemacht. Dahinter verbergen sich kitschig- bunte Foto-Automaten, in denen man sich vor verschiedenen Hintergründen fotografieren lassen kann und kurze Zeit später kleine Aufkleber der Bilder erhält. Die etwa daumennagelgroßen Photosticker werden im Kalender gesammelt wie früher Sprüche im Poesiealbum.

Überall stehen die Automaten inzwischen, selbst „Printclub-Häuser“ mit Dutzenden von Variationen sind keine Seltenheit. Und obwohl Printclub etwa zur gleichen Zeit wie Tamagotchi in Japan aufkam, ist der Boom ungebrochen. „Printclub Sticker sind ein Symbol der Freundschaft, wie lustige Visitenkarten. Und Freundschaft ist wichtig“, sagt Mari, Studentin an der Mukogawa Frauen- Universität.

Mari besitzt ein Notizbuch mit Hunderten von Stickern und klebt die Bilder selbst auf ihr Handy. „Wenn ich von einem Freund angerufen werde, sehe ich gern sein lächelndes Gesicht auf meinem Handy. Das gibt mir ein gutes Gefühl“, erzählt Mari.

Nur viele Jungs scheinen eher genervt von der neuen Marotte: „Alle Mädchen wollen jetzt diese Fotos machen, wenn sie mit dir ausgehen“, beschwerte sich der 21jährige Hideki kürzlich in der japanischen Zeitschrift The Alien. „Diese Mädchen, die Hunderte von den Stickern sammeln, sind einfach dumm.“

Doch gibt es einen besseren Weg, sein Territorium abzusichern, als seinem Liebsten ein gemeinsames Bild auf die Tasche zu kleben?

„Meine Freundin befürchtet, daß ich ein Playboy bin“, beschwert sich Toshi, ein Bauarbeiter aus Osaka. „Sie klebt mir diese Sticker von uns beiden auf mein Handy und an meine Tasche. Wenn ich mich mit anderen Frauen treffe, sehen die das Bild. Meine Freundin beruhigt dieser Gedanke, aber ich fühle mich wie ihr Hund.“

Oder wie ein Tamagotchi, denn was in dessen Seele vorgeht, weiß auch niemand von uns. Lisa Marvell