Machtlos in Seattle

■ Ahasver auf Verbrecherjagd: Lance Henriksen in Chris Carters amerikanischer Erfolgsserie "Millennium", freitags um 21.15 Uhr, Sat.1

Chris Carter leidet eingestandenermaßen unter Paranoia, aber er macht das Beste daraus. Wenn die Ängste kommen, packt er sie kurzerhand in ein Drehbuch für die von ihm erdachte Fernsehserie „Akte X“. Seit deren unerhörtem Erfolg gilt Carter als „the hottest producer on TV“ (TV Guide) und genoß in puncto Budgetierung, aber auch bezüglich der Inhalte und der Optik weitreichende Freiheiten, als er sich im vergangenen Jahr mit „Millennium“ eine zweite Therapiemöglichkeit herrichtete. Eine gigantische Werbekampagne bescherte der Serie in den USA ein gelungenes Entree: Mit einem Marktanteil von 21 Prozent übertrumpfte der Pilotfilm sogar die Schwesterserie „Akte X“.

Wie in „Akte X“ existiert auch in „Millennium“ eine klandestine Gruppe, deren Machenschaften hier jedoch ins Positive gewendet sind. Sie besteht aus ehemaligen Kriminalbeamten und hochqualifizierten Experten, die sich zur Aufgabe gemacht haben, zur Lösung komplexer Kriminalfälle beizutragen. In ihren Diensten steht auch Frank Black, vormals beim Washingtoner FBI, der zu Beginn der Serie ein schmuckes Heim im beschaulichen Seattle bezieht, um Frau und Tochter vor den Anfechtungen verbrechensdurchseuchter Großstädte zu schützen. „Es gibt kaum ein schöneres Plätzchen, um Wurzeln zu schlagen“, strahlt der Nachbar. Daß dieses Haus am Ezekiel Drive steht, hätte den neuen Bewohnern indes eigentlich eine Warnung sein sollen...

Black verfügt über die Begabung, ein Verbrechen aus dem Blickwinkel des Täters nachvollziehen zu können. Mit seinen Worten: „Ich versetze mich in ihn hinein. Ich werde zu dem, was wir am meisten fürchten. (...) Ich verschmelze mit dem Bösen, werde eins mit dem Grauen. Was uns nur in den Abgründen unserer Seele möglich ist, das ist meine Gabe... Mein Fluch.“

In der Tat, schön ist es nicht, was Black da fortwährend vors innere Auge gerät, und die damit verbundene Seelenpein war es denn auch, die ihn seinen Dienst quittieren ließ. Aber einen Beruf kann man drangeben, eine Berufung nicht. Ruhelos zieht Frank Black seine Bahnen, sich dem Bösen entgegenzustemmen, während er parallel seiner Familie einen sicheren Hort zu errichten sucht – doch diese ist längst Ziel eines unheimlichen Verfolgers geworden, der seine Allgegenwart vermittels hautnah aufgenommener Polaroids dokumentiert.

Wie jede Fernsehproduktion durchlief auch „Akte X“ seinerzeit diverse Entwicklungsstadien und gelangte letztlich als Serial mit unikaten Qualitäten auf den Bildschirm. „Millennium“ hingegen ist ein Konglomerat bekannter Motive und Sujets. Annonciert als „,Das Schweigen der Lämmer‘ in der Bildschirmfassung“, bedient sich die Serie des in jüngeren Kriminalfilmen und -romanen notorisch gewordenen Täter- und Tatortanalytikers. Weit mehr als dem Erfolgsfilm „Das Schweigen der Lämmer“ verdankt der Entwurf dem fünf Jahre früher von Michael Mann gedrehten „Blutmond“, der ebenfalls auf einem Roman von Thomas Harris beruht und den ersten Leinwandauftritt Hannibal Lecters (dort „Lektor“) markiert – die Expositionen von Film und Serie sind nahezu identisch. Das visuelle Konzept hingegen geht vorsätzlich auf den finsteren Psychothriller „Seven“ zurück, dessen Art-director auch den „Millennium“-Pilotfilm gestaltete.

Aufgedonnert wird das Potpourri durch kulturgeschichtliche Anleihen – Psychokiller zitieren Yeats, Nostradamus muß herhalten, und erst recht erweist sich die Bibel als ergiebige Quelle für bedeutungsschwangeres Endzeitgetöse. Humor ist rar in diesem apokalyptischen Szenario, kommt aber vor – in der Episode „Lamentation“ kreuzen, sehr genau hinsehen!, zwei FBI-Agenten namens Mulder und Scully Frank Blacks steinigen Weg.

„Millenniums“ größtes Plus ist die Besetzung. Hauptdarsteller Lance Henriksen, sonst jedem TV- Engagement abhold, beherrscht unverrückbar das Geschehen. Der Mann mit den bronzenen, zerklüfteten Gesichtszügen verfügt über eine Reputation als Shakespeare- Schauspieler, verhalf aber auch schon manch zweitrangigem B-Movie zu unverdienter Größe und arbeitete mit ehrenwerten Regisseuren wie John Woo, Walter Hill und David Fincher, ferner ist er in nahezu allen Filmen John Camerons zu sehen. Ihm gelingt es, den Schwulst einigermaßen in Schach zu halten und den Pilotfilm über die Runden zu retten – ob er diese Intensität aber über stolze 22 Folgen zu erhalten vermag, wird sich zeigen müssen. Harald Keller