■ Borussia Dortmunds Lars Ricken ist im deutschen Fußball nicht nur sportlich ein Hoffnungsträger: ein Star auch nach dem Spielende. Ein Portrait von Clemens Gerlach
: Ein Rebell ohne Webfehler

Ein amerikanischer Sportartikelmulti kaufte den westfälischen Jungstar für eine Millionengage ein.

In zwei Werbespots durfte der Fußballer nun wohlkalkulierte Frechheiten mitteilen – und avanciert damit zu einem Idol. Bundestrainer Berti Vogts will Lars Ricken für die nächste Weltmeisterschaft aufbauen – auch wenn er heute abend im Länderspiel gegen Albanien verletzt nicht spielen kann

Seine eigenen Werbespots guckt sich Lars Ricken nie an. „Ich mag sie einfach nicht“, gibt der 21jährige Fußballprofi von Borussia Dortmund zu. Vereinspräsident Gerd Niebaum kann das kaum glauben – zumal er den jüngsten, den zweiten Nike-Werbespot seines Angestellten um so aufmerksamer studiert hat. „Ich bin nicht glücklich darüber“, grantelte der oberste Borusse über den Halbminutenclip. Daß ein „weltweiter Sportartikler“ – und BVB-Sponsor – eine „solche moralisierende Werbung“ betreibe, sei „schwer nachvollziehbar“, vermied Niebaum gleichwohl weiteren öffentlichen Streit mit seinem Angestellten, dem Hauptdarsteller Ricken.

Der geißelt in der Rolle eines Robin Hood der Stehplätze „Typen in Nadelstreifen, Geschäftemacherei ohne Ende“ sowie „Vereine, die teure Profis kaufen, statt den Nachwuchs zu fördern“. Lieber solle man sich wieder auf das Wesentliche beim Fußball besinnen. „Die Leidenschaft kommt zu kurz“, sagt Ricken, der beim europäischen Meisterpokalgewinner den Dortmunder schlechthin gibt. Der Funktionär Niebaum, unter dessen Leitung der Aufstieg des Vereins von einer westfälischen Bolztruppe zu einem Fußballunternehmen mit dreistelligen Millionenumsätzen fiel, muß sich durch die Reklame auf den Schlips getreten gefühlt haben.

„Wir wollten dezent provozieren“, beteuert Ricken indes, „und zum Nachdenken anregen.“ Ersteres ist gelungen, letzteres nicht kontrollierbar. Es gibt jedoch erfolgversprechende Hinweise. So initiierte die Bild am Beispiel des juvenilen Vertragsmillionärs einen quasimoralphilosophischen Diskurs und fragte: „Beißt da nicht einer in die Hand, die ihn füttert?“ Das Blatt erkannte aber schnell, daß Ricken nichts als ein Spiel treibt. Eines, zu dem auch die Sorgenfalten des BVB- Chefs gehörten, eines um die passende Street Credibility. Ein Spiel um Reputation bei der zahlenden Kundschaft, die Fußball als schmutziges, rauhes Spiel von Proleten genießen möchte. So erteilte Bild dem Nachwuchssternchen schließlich Absolution – und Ricken war aus dem Schneider.

Wie schon so oft zuvor: mit sechs den Freischwimmer geschafft, Champions- League-Sieger und Deutscher Meister vor Eintritt des passiven Wahlalters; ein Mann für die entscheidenden Tore, vor kurzem das erste Länderspiel; en passant noch mit der Dortmunder Heavy-Metal-Band Phantoms Of Future im Tonstudio, nebenbei ein Abitur mit 2,4, anschließend ein BWL-Fernstudium nebst Auszug aus dem Eigenheim der Eltern. Eine mediale Einheizfront von Bravo Sport („So süß“) über die FAZ („Jungstar“), den Kicker („Killer zum Knutschen“) bis zur Süddeutschen Zeitung („Coole Kultfigur“) – einig wie seit Boris Beckers Hochzeiten nicht – erkannte in dem Spieler mit Ohrring, dem schwarzen Outfit und der Vorliebe für Grunge-Musik eine Figur mit raren Qualitäten: ein Popstar auf Stollen.

Er ist ja auch charmant, eigentlich immer. Selbst den x-ten Autogrammjäger behandelt er noch zuvorkommend, sogar wenn sie mitten ins Interview platzen wie hier im Trainingslager am Vierwaldstätter See in der Schweiz. Ganz selbstverständlich zeichnet er sein Signet auf den ungelenk hingehaltenen Block, lächelt und sagt dann freundlich, aber bestimmt: „Nächstes Mal aber bitte nicht stören.“

Der ungeteilten Zuneigung von Bundestrainer Berti Vogts kann sich Ricken ebenfalls sicher sein. „Er ist Deutschlands größtes Fußballtalent“, weiß der Coach, der an seinem neuesten Schützling „noch keine Nachteile“ feststellen konnte, aber „sehr viele Vorzüge“. Um so mehr hofft Vogts, daß Ricken im WM-Qualifikationsspiel gegen Albanien doch mitspielen kann – und die kürzlich erlittene Knöchelverletzung zum zweiten Nationalmannschaftseinsatz geheilt sein werde.

Aber Ricken will sich nicht unter Druck setzen lassen – weder gesundheitlich noch sportlich: „Nichts wäre schlimmer, als abzuheben.“ So lautet das Credo des übungseifrigen Neunationalspielers, der von sich behauptet, „nie unvernünftig“ zu sein. Selbst eine kleine Marotte habe er nicht, sagt er nach kurzem Nachdenken, keine wie Boris Becker, der sein Nutella-Messer ableckt. Wenn man dennoch nach winzigen Webfehlern forscht, guckt Ricken einen an, als habe man ihn gerade aufgefordert, im Wendland Schienen durchzusägen. Lieber redet er darüber, daß er immer „etwas mehr und konzentrierter trainiert hat als andere“.

Die Sonderschichten führten direkt ins Vogtssche Herz, der sich durch Ricken wohl an die eigene aktive Zeit als Berufsfußballer erinnert fühlt. Auch deshalb möchte Vogts („ich wollte ein Zeichen setzen“) Ricken nächstes Jahr mit zur Weltmeisterschaft nach Frankreich nehmen.

Uneingeschränkt genießen mag Ricken die väterliche Fürsorge von ganz oben allerdings nicht. Protektion – schön und gut. Aber eigentlich will der selbstbewußte Vorzeigejunge „so schnell wie möglich davon wegkommen“, als Hoffnungsträger gepriesen zu werden. „Ein Image kann gefährlich sein“, weiß er. Die am eigenen Größenwahn gescheiterten Sternkopfs, Scholls oder Dundees sind dem Westfalen eine Warnung: „Ich will nicht durch Reden auffallen, sondern durch Leistung.“ Rickens Berater Norbert Pflippen sorgt mit dafür, daß Ricken nicht überschnappt. Deshalb werden öffentliche Auftritte fein dosiert. „Ich versuche mich rar zu machen“, sagt der Heißbegehrte und storniert bis auf weiteres Interviewwünsche.

Penibel wird darauf geachtet, daß Ricken weiter Courage zeigt („ich mag keine Trittbettfahrer“), aber dabei nicht altklug wirkt. Zu brav darf er bei dieser Balance allerdings auch nicht werden. Kurz: Ricken soll ein glaubwürdiger „Vertreter einer neuen, erfolgsorientierten Generation“ sein, fordert sein Privatsponsor Nike – und keiner, der sich für Kommunalobligationen verwendet.

Im Vergleich mit früheren Stars wie Uwe Seeler hat es einer wie Lars Ricken schwer. Will heute ein Fußballer eine exponierte Stellung einnehmen, genügt es schon lange nicht mehr, nur überdurchschnittlich gut das Spielgerät behandeln zu können. Ein moderner Kicker darf mit Relativsätzen nicht hadern. Etwas Rebellion im Gestus schadet ebenfalls nicht. Eine freche Pose ist nicht geschäftsschädigend. Im Gegenteil. Kamerad und Kumpel soll er dennoch sein – obwohl jeder weiß, daß heutzutage eine Mannschaft nicht aus Freunden, sondern aus selbständigen Jungunternehmern besteht.

Der teure Ricken läßt sich dementsprechend mit gönnerhafter Aufmunterung nicht mehr abspeisen. „Gut gemacht, Kleiner“, hat er schon zu oft gehört. Bemerkungen, die einem Unbekümmerten gelten. Dieses Naive hat Ricken stets für sich reklamiert und als Vorteil genommen: So einem verzeiht man alles. Diese Zeiten neigen sich dem Ende zu. Nun wird Ricken an jeder hastigen Formulierung gemessen. Wegen seiner Belastungen mit Schule, Studium und Fußball habe er sich über vieles „keine Gedanken machen“ können, sagt er, „manches konnte ich deshalb vielleicht auch gar nicht richtig verarbeiten“.

Selbst bei der Borussia muß sich Ricken noch hinten anstellen. Dabei gehört er seit Saisonbeginn, als Nevio Scala den Trainerposten von Ottmar Hitzfeld übernahm, zu den Stammspielern. Ernst genommen haben es beim BVB nur wenige. Ricken gilt nach wie vor als „Joker de luxe“, als „Kronprinz“, der sich gedulden müsse und könne, weil ihm ja die Zukunft gehöre.

Doch Ricken interessiert mehr die Gegenwart. Lange genug war er eine Art Aushilfskellner, jetzt will er selber bestimmen, was auf den Tisch kommt. Die ersten Versuche freilich, sich im Dortmunder Gefüge neu zu positionieren, wurden von seinen Teamrivalen kritisch beäugt. Daß Ricken die Gardinen zuziehen muß, wenn es seinem Zimmerkollegen Matthias Sammer zu hell ist, leuchtete Ricken noch ein. Doch auch Torwart Stefan Klos zu parieren, einem, der nie das Nationaltrikot überstreifen wird?

Am Ende des Kampfs um Hierarchien schälte sich der Kleine aus seiner Bettstatt – und hatte doch gewonnen. Denn Ricken hatte bewußt ein ungeschriebenes Gesetz verletzt. Er weiß ja, daß im kleinbürgerlichen Fußballgeschäft Normen wie Ehre und Anstand etwas zählen. Gerade in Dortmund pflegt man zwecks Abgrenzung zum FC Bayern München besonders die Idee der intakten Familie – bei der Ricken den Mustersohn spielt, der gegen einen älteren Bruder wie Stefan Klos nicht aufzumucken hat.

Kein Preis ist den Konstrukteuren des Ruhrpottidylls zu hoch, um weiterhin auf Harmonie zu machen. Die meist siebenstelligen Gehälter sind vor allem Schweigegelder. Abweichendes Verhalten wird entsprechend geahndet. Auch Lars Ricken wurde schon einmal zum Rapport bei der Leitungsebene einbestellt. Er hatte öffentlich sein Lückenbüßerdasein beklagt. Manager Michael Meier wies den Aufmüpfigen daraufhin streng auf den Pfad der Borussen-Tugend zurück.

Trotzdem wird Lars Ricken weiter probieren, Hackordnungen zu seinen Gunsten zu ändern. Er will es, und er hat keine andere Wahl: Wer keine Härte mitbringt, ist im Bundesligageschäft verloren. Dortmunds sportliche Krise könnte dabei für ihn sogar als Katalysator wirken. Alte Kameraden aus der Mannschaft – wie Knut Reinhardt, Michael Zorc oder Martin Kree – müssen einen etwaigen Umbruch fürchten. Ricken nicht.

Soll er nun Mitleid haben? „Bei allem Respekt“, spricht Ricken für die jungen Spieler, die den „Etablierten den Kampf“ erklärt haben: „Wir werden siegen.“ Auflösung vermutlich im dritten Spot.