Die Deutschen: Ein Volk von Konsumenten, das nach 1945 mit Politik nichts mehr zu tun haben wollte und statt dessen auf das Private setzte. Der Sozialhistoriker Arne Andersen hat die beste Alltagsgeschichte der Deutschen vom Wirtschaftswunder bis heute verfaßt  ■ Von Jan Feddersen

Es war nicht die Rote Armee Fraktion, die der Bundesrepublik Deutschland den Krieg erklärte. Schon die Bewegung, aus der sie hervorging, die der Achtundsechziger, berief sich auf den Theodor W. Adorno, der kühl erklärte: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Entsprechend fielen auch die Bewertungen aus, die die Protagonisten des gesellschaftlichen Aufbruchs Ende der sechziger Jahre über die ersten Jahre der Bundesrepublik verfaßten: Spießig sei die Republik gewesen, moralisch muffig, politisch revanchistisch und antikommunistisch sowieso.

Bis Anfang der neunziger Jahre war diese Sicht auf die Zeit, die erst mit der Studentenbewegung ein Ende gefunden habe, zumindest in den liberalen Milieus der Bundesrepublik, sakrosankt. Ungeklärt blieb dabei nur, wie es eigentlich dazu kommen konnte, daß nicht nur wenige Studenten sich Ende der sechziger Jahre aufmachten, in der Bundesrepublik nach ihrem Gusto zu leben. Und: Offen mußte bleiben, weshalb unsere Eltern und Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg derart fromm und gierig zugleich den Verheißungen des Wirtschaftswunders folgten.

Der gebürtige Hamburger Arne Andersen, Jahrgang 1951, hat sich der Mühe unterzogen, eine leicht verständliche, dennoch anspruchsvolle Alltagsgeschichte der (West-)Deutschen nach 1945 zu verfassen. Er hat dabei bewußt die Zeugnisse der Hochkultur und der offiziellen Politik zur Seite gelegt und sich den Phänomenen des Banalen, des nur scheinbar Privaten gewidmet.

Seine These: Das Versprechen der demokratischen Nachkriegsregierungen, für massenhaften Wohlstand zu sorgen, hat der bundesdeutschen Demokratie mehr Legitimität verschafft als alle Staatsbürgerkundestunden zusammen. Konsum war dabei das Zauberwort, denn mit Ideologien, mit Utopien wie der nationalsozialistischen, wollte das Volk nichts mehr zu tun haben: „Die sozialen Unterschiede“, so Andersen weiter, waren „nicht aufgehoben“, doch nicht mehr die Klassenauseinandersetzungen bestimmten die „gesellschaftlichen Kontroversen“, sondern „die individuellen Möglichkeiten, an der bunten Warenwelt teilhaben zu können“.

Das reichbebilderte Kompendium – Wiedererkennungswert garantiert – macht die Jahrzehnte der Bundesrepublik lebendig. Heiter, manchmal ironisch, sicher versöhnungsbereit protokolliert der Autor die strenge Mühsal der Deutschen, endlich ganz ohne Weltanschauung über die Runden kommen zu können. Ruhe war die erste Bürgerpflicht, denn der gute Bürger malochte für einen „Traum vom guten Leben“, damit es auch die Kinder „einmal besser haben“. Außerdem gab's noch was auf die Finger, wenn man der Lehrerin frech kam oder die Nachbarn nicht grüßte: Das war'n noch Zeiten. Mädchen durften noch keine Niethosen tragen (unweiblich) und Jungs keine Tolle wie Elvis (weibisch).

Aber sie haben sich gewehrt und doch auf ihre Art zivile Helden gehabt: Peter Kraus und Conny Froboess, die deutschen, ja auch: subversiven Figuren des zersetzenden Popgeschäfts. Andersen schrieb das stimmig auf. Er sammelte sein Material vor allem bei den sogenannten einfachen Leuten – die kulturellen und materiellen Positionskämpfe der Wohlhabenden und Bildungsbürger läßt er außen vor. Er berichtet von der Arbeit, um das Geld für den ersten Fernseher zu verdienen, um die erste Urlaubsreise (nach Italien) finanzieren zu können, die ersten Haushaltsgeräte wie Waschmaschine und Küchenquirl („Mutters kleine Helfer“), aber natürlich auch die feinsinnigen und gehässigen Strategien im nachbarschaftlichen Streit darüber, wer jetzt das bessere Auto hat, besser: sich leisten konnte – VW-Käfer oder Opel-Rekord?

Am Konsum hing die ganze Lust und (fast) das ganze Leben der Flakhelfergeneration und ihrer Angehörigen. Wer diesen Zusammenhang nicht sehen will, wird nicht begreifen, weshalb die Deutschen mit den Grünen (immer noch) so ihre Probleme haben, warum Kohl 15 Jahre schon Kanzler ist und Helmut Schmidt den Deutschen der liebste SPD-Kanzler aller Zeiten war: deutsch, ordentlich, solide, also fern aller Boheme, die nur mit dem Erreichten spielt. Und das erklärt zugleich, daß die DDR-Wende Ende der achtziger Jahre zunächst wenig mit dem Wunsch nach Demokratie als vielmehr mit dem Wechsel auf die sichere Konsumseite zu tun hatte – mit Reisen, Shoppen, also Spaß und Weltoffenheit, vor allem mit einer Mentalität, die Politik nicht als ideologisches Weltgewitter, sondern eher als nützliche Rivalität um günstige Rahmenbedingungen im Privaten sieht. Insofern darf resümiert werden, daß Deutschland noch nie so weit entfernt war von so etwas wie einer „revolutionären Situation“. Und die meisten würden wohl auch sagen: Gott sei Dank. Andersen plädiert für eine Art von Askese, die er allerdings nicht als freiwillilge Armut verstanden wissen will. Ökologisch sei ein ohnmächtiges Produzieren von Warenbergen sinnlos und zudem gefährlich. Er glaubt, daß Zeit als Wert, als Chance, aus der Hetze auszusteigen, an Prestige gewinnt. Es müßten nur politische Entscheidungen getroffen werden, die den Müßiggänger nicht als Faulpelz diskriminieren. Dann hätte Zeitsouveränität die Chance, so attraktiv zu werden wie für einen Arbeiter in den fünfziger Jahren das eigene Auto. Das ist Andersens „Traum vom guten Leben“.

Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben – Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute (Gestaltung: Projektgruppe für Typographie an der Hochschule für Künste Bremen); Frankfurt am Main 1997, Campus-Verlag, 275 Seiten, 58 Mark