„Ich brauche Leben um mich herum“

„Ich stelle es mir ganz furchtbar vor, eines Tages nicht mehr laufen zu können und den ganzen Tag mutterseelenallein in meiner Wohnung verbringen zu müssen. Da würde ich durchdrehen. Denn ich brauche Leben um mich herum. Im Moment wohne ich zwar auch allein, in dem Haus, das meine Eltern 1960 gebaut haben. Mein Mann ist tot. Ich habe weder Geschwister noch eigene Kinder. Das Haus ist in Boberg, das ist ziemlich abgelegen, aber das stört mich zur Zeit noch nicht. Denn ich kann ja jederzeit in den Bus steigen und hier in die Begegnungsstätte nach Bergedorf kommen, wo ich meine Bekannten treffe.

Aber wenn sich das ändern sollte, wenn ich das also allein nicht mehr schaffe, dann würde ich nicht mehr in dem Haus bleiben wollen. Es soll mich dort auch niemand versorgen kommen. Ich will keinen Pflegedienst, der einmal am Tag vorbeischaut, denn es geht doch nicht darum, daß ich jemandem meine Sorgen anvertrauen will. Ich möchte einfach jemanden haben, dem ich auch mal Bagatellsachen erzählen kann, wissen Sie.

Nein, ich möchte dann ausziehen. Denn stellen Sie sich mal vor, mir passiert etwas da draußen, das würde doch keiner merken, höchstens der Briefträger. Aber manchmal bekomme ich eine ganze Woche lang keine Post.

Am liebsten würde ich im Alter dort wohnen, wo es Geschäfte vor der Tür gibt, wo ich bummeln kann. Also ruhig in der Stadt. Ich habe mich schon in mehreren solcher Seniorenwohnanlagen beworben, wo man viele Nachbarn und trotzdem eine eigene, kleine Wohnung hat, 40 Quadratmeter, die man sich sogar selbst einrichten darf. Haustiere kann man auch mitbringen. Es gibt dort meistens Duschen statt Badewannen, das ist wichtig, wegen meiner Knie. Ja, und falls einem doch mal was passiert, kann man um Hilfe klingeln. Denn es gibt eine Pflegestation. Oder man kann sich Essen kommen lassen. Für mich wäre so eine Seniorenwohnanlage ideal, aber für die meisten braucht man einen Paragraph-5-Schein, und den kriege ich nicht.

Angeblich bin ich zu vermögend. Ich! Mein Mann war Busfahrer, ich war einfache Arbeiterin, ich habe die Muster auf industriellen Strickmaschinen eingerichtet. Heute macht man das ja mit dem Computer, aber damals war das ein Lehrberuf, Strickerei-Einrichterin. Ich bekomme 2.000 Mark Rente, und zusammen mit dem Haus ist das wohl zuviel Einkommen. Wenn ich aber in eine private Anlage gehe, dann kostet das mindestens 2.000 Mark oder mehr. Verstehen Sie, wenn ich dahin ziehe, kann ich mir nichts mehr leisten. Aber ich möchte noch was unternehmen im Leben, ich möchte Ausfahrten machen, ich möchte weiter meinen Zeichenkurs machen. Früher habe ich gedacht, ich kann sowieso nicht zeichnen, aber hier in der Begegnungsstätte haben die mich dazu gebracht. Und jetzt macht es mir richtig Spaß.