Der seltsame Tod eines Knackis

■ Im November 1992 starb Carsten W. in der JVA Oslebshausen. Die Gerichtsmediziner stellten Polamidon in seinem Blut fest – obwohl er nicht substituiert wurde. Sein Tod wurde nie geklärt - weil die Ermittlungen der Kripo behindert wurden? Von Kerstin Schneider

edankenverloren reibt Renate W. eine Banknote aus Nigeria zwischen Zeigefinger und Daumen. „Fragen“, seufzt sie. „Fragen über Fragen“. „Fünf Naira – Bank of Nigeria“steht auf Geldschein. „Keine Ahnung, woher er den wohl hatte“, sagt Renate W. und legt die Banknote auf den Tisch neben die Aufstellung der Effektenkammer des Knastes über den Nachlaß ihres Sohnes und den Schenkungsvertrag. Ein halbes Jahr vor seinem Tod hat Carsten W. von einem Mithäftling eine Uhr geschenkt bekommen. Den Gönner kennt seine Mutter nicht. „Die Uhr hat er getragen, als er beerdigt wurde“, erinnert sich Renate W. „Fragen über Fragen“, seufzt sie wieder.

ls der Justizvollzugsbeamte am Morgen des 27. November 1992 um 7.20 Uhr die schwere Holztür der Zelle im Haus 3 der Justizvollzugsanstalt Oslebshausen aufschließt, kommt für den 24jährigen Carsten W. jede Hilfe zu spät. Er liegt tot auf dem kahlen Betonfußboden der Zelle. Die Finger seiner rechten Hand, sind um das abgebrochene Stück einer Fernsehantenne verkrampft. „Er muß wohl versucht haben, die Antenne an seinem Fernseher zu richten als er starb“, sagt Anstaltsleiter Hans-Henning Hoff etwa zwölf Stunden später zu Renate W., als er ihr die Nachricht vom Tod ihres Sohnes überbringt. Es ist bis heute die einzige Erklärung über die näheren Todesumstände ihres Sohnes, die Renate W. unaufgefordert von offizieller Stelle erhält.

chon wenige Tage nachdem Carsten W. in seiner Zelle gefunden worden ist, gibt es die ersten Hinweise darauf, daß es bei seinem Tod nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könnte. Zwei Häftlinge hätten ihm zwangsweise Methadon und das starke Beruhigungsmittel Diazipam eingeflößt heißt es (siehe taz 7.12.1992). Anstaltsleiter Hoff glaubt nicht an eine Gewalttat. Daß das Polamidon den Häftling getötet haben könnte, hält er ebenfalls für ausgeschlossen: „Selbst wenn er beides genommen hat, kann es nicht mehrer Stunden später zu einem Kollaps mit Todesfolge kommen“(siehe taz 18.12.92).

napp drei Wochen später liegt das forensisch-toxikologische Gutachten der Medizinischen Universität Lübeck vor. Es weist Polamindon im Körper von Carsten W. nach – und zwar obwohl er gar nicht am Substitutions-Programm der Anstalt teilgenommen hat. Auch das Beruhigungsmittel Diazepam wird im Urin nachgewiesen. Anhaltspunkte für eine Vergiftung finden die Mediziner dennoch nicht. Renate W. erfährt davon erst, als sie das Gutachten von der Staatsanwaltschaft anfordert.

„Diesen Widerspruch hat mir bis heute niemand erklärt“, empört sie sich. „Man hat noch nicht einmal versucht, mir zu erklären, wie mein Sohn an das Polamidon gekommen ist. Er wurde doch gar nicht substituiert. Er sollte doch in die Therapie gehen. Im Dezember. Die Weihnachtsfeiertage sollte er nach Hause kommen.“Renate W. hält einen Moment inne. „Als mein Sohn den Kiosk überfallen hat, habe ich ihn selbst angezeigt. Ich wollte, daß er in den Knast geht. Ich wollte, daß er von seinen Drogen loskommt. Ich habe gedacht, der Knast macht ihn wieder zu einem besseren Menschen. Und plötzlich steht der Anstaltsleiter vor einem und sagt: ,Ich muß ihnen leider die traurige Mitteilung machen, daß ihr Sohn gestorben ist. Wir haben ihn heute morgen in seiner Zelle gefunden.' Das ist doch irre.“

ie Todesursache wird nicht geklärt. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein. Doch Carsten W. ist nur der erste von drei Häftlingen, die im November und Dezember 1992 binnen drei Wochen in der JVA sterben.

Fünf Monate später, im Mai 1993, erhängt sich ein vierter Häftling in seiner Zelle. Unter anderem um diese Todesfälle zu klären, schleust die Kripo im November 1994 verdeckte Ermittler in den Knast ein. Bei ihren Ermittlungen stoßen die Beamten auf die laxe Handhabe bei der Polamidon-Vergabe – die im Fall Carsten W. eine Rolle gespielt haben könnten: Die Fenster der Krankenstation stehen offen, so daß die Häftlinge die Plastikbecher mit dem abgefüllten Methadon klauen. Der Anstaltsarzt Dr. Klaus-Jürgen Fritsch überläßt die Polamindon-Vergabe an entlassene Häftlinge zeitweise dem Pförtner. Bis Mitte 1993 liefert die Apotheke pro 10ml-Fläschen rund zehn Prozent mehr Methadon, um den Flüssigkeitsverlust beim Abfüllen auszugleichen. Diese sogenannten Überfüllmengen summieren sich im Laufe der Zeit auf mehrere Liter. Über den Verbleib dieser Restmengen sagt Fritsch: „Wir haben die Flaschen weggeworfen. Die Hausarbeiter (Häftlinge, die im Knast zu handwerklichen Arbeiten herangezogen werden) haben die leeren Flaschen aus dem Müll geholt und die Tröpfchenreste zusammengekippt“. Das so gewonnene Methadon wird – laut Kripo – von den Häftlingen im Knast verkauft. Außerdem werde das Schlucken der Ersatzdroge nur unzureichend überwacht. Anstatt das Polamidon zu schlucken, behielten die Häftlinge die begehrte Ersatzdroge im Mund und spuckten sie hinterher wieder aus. Auf diese Weise entwickelt sich Anfang der 90er Jahre ein schwunhafter, illegaler Handel mit Methadon im Knast.

Häftlinge behaupten gegenüber der Kripo, daß zwei Knackis Carsten W. das Polamidon zwangsweise eingeflößt hätten, um ihn zu auszurauben. Daß das Polamidon – entgegen der Aussage Hoffs – zum Tode geführt hat, ist durchaus möglich. Einen Tag vor seinem Tod, war Carsten W. aus dem Lazarett entlassen worden. Er war dort wegen einer Hepatitis behandelt worden. Laut Zeugenaussagen war er so gut wie entgiftet. Im Herzblut stellten die Mediziner eine Dosis von 400 Nanogramm pro Milliliter fest. Im Urin 1.900 ng/ml. Für einen Substituierten, der an hohe Polamidon-Dosen gewöhnt ist, ist das eine therapeutische Dosis. Bei einem Menschen, der fast entgiftet und nicht mehr an Polamidon gewöhnt ist, führt diese Dosis nach Angaben von Medizinern zu Herz- und Atemstillstand. Um dem Hinweis der Knackis nachzugehen, fordert die Kripo eine Aufstellung aller Bediensteten und Insassen der Vollzugsgruppe 10 an. Die Beamten warten vergeblich auf die Liste. Warum sie die Aufstellung nicht bekommen, ist bis heute unklar.

ie Kripo stößt auf einen weiteren Zeugen. Ulrich B. ein angehender Sozialarbeiter, der im November 1992 sein Anerkennungsjahr im Knast ableistet. Carsten W. bittet den Praktikanten kurz vor seinem Tod um ein vertrauliches Gespräch. Die beiden vereinbaren für den 27. November, dem Todestag von Carsten W., einen Termin. Doch als Ulrich B. am Morgen in den Knast kommt, sieht er nur noch, wie zwei Männer den Sarg aus dem Haus 3 tragen. Im Aufenthaltsraum hört er kurz darauf, wie sich die beiden Beamten der Frühschicht mit ihrem stellvertretenden Gruppenleiter und zwei Mitgliedern des Personalrates unterhalten. Die Beamten sind sich darüber einig, daß es besser sei, die Fragen der Kripo zu beantworten als die Entdeckung der Leiche zu beschreiben. Carsten W. wurde erst um 7.20 Uhr gefunden. Die Häftlinge werden gewöhnlich um 6.15 Uhr geweckt. Die Frage, ob Carsten W. hätte geholfen werden können, wenn er früher entdeckt worden wäre, steht im Raum und drückt auf die Stimmung. Die Frühschicht versucht, dem Nachtdienst die Schuld zuzuschieben und umgekehrt. Als die Beamten bemerken, daß der Sozialarbeiter ihnen zuhört, schicken sie ihn weg.

Ulrich B. recherchiert auf eigene Faust weiter. Auch er hört, daß zwei Knackis Carsten W. Polamidon gegeben haben sollen. Carsten W. sei zweimal zusammengebrochen: auf dem Flur und in seiner Zelle. Die Beamtin, die an diesem Abend Dienst gehabt hat, gibt, so Ulrich B., ihm gegenüber zu, daß sie Carsten W. eine Tablette Diazipam gegeben hat. Auf die Frage, warum sie nicht den Arzt geholt habe, antwortet die Beamtin, sie sei allein und überfordert gewesen.

Ulrich B. stellt offenbar zuviele Fragen. Die Beamten verstummen, wenn er den Raum betritt. Eine Dienstbesprechung wird anberaumt. Anstaltsleiter Hans-Henning Hoff will gegenüber den Beamten Milde walten lassen. Die Beamten, die Carsten W. zu spät entdeckt haben, seien noch jung und hätten wenig Erfahrung. Ein Disziplinarverfahren will er nicht eingeleiten. „Was muß denn hier noch passieren, damit ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird“, fragt Ulrich B. Ein Beamter nimmt ihn nach der Besprechung zur Seite. „Überleg' dir genau, was du sagst. Du willst doch mal eine Festanstellung haben“, soll er ihn gewarnt haben. Ein paar Tage später ist das Anerkennungsjahr für Ulrich B. frühzeitig beendet. Der Praktikant sei nicht teamfähig gewesen und hätte sich zu schnell auf die Seite der Gefangenen gestellt, heißt es noch heute über ihn. Etwa ein Jahr später bewirbt sich Ulrich B. in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel. Beim Vorstellungsgespräch wird ihm – so seine Aussage – eröffnet, er hätte keine Chance, die Stelle zu bekommen, da zwischenzeitlich eine negative Beurteilung aus Bremen vorläge. Die Kripo hält die Aussage von Ulrich B. für glaubhaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen die Beamtin, die Carsten W. ohne ärztliche Verordnung eine Diazepam-Tablette verabreicht haben soll. Das Verfahren wird eingestellt. Die Frau bestreitet, dem Häftling Beruhigungsmittel gegeben zu haben.

Im Juni 1995 legt die Kripo ihren Abschlußbericht vor (taz 1.9.1995). Es habe „konkrete Behinderungen bei Todesermittlungen“gegeben, kritisieren die Beamten. „Relevante Umstände aus dem Geschehen vor dem Todeseintritt wurden unterdrückt. Das Betätigen der Notglocke wurde ignoriert.“Eine Zusammenarbeit zwischen Kripo und JVA sei nicht gewollt. Um eine „heile Welt darzustellen und den liberalisierten Strafvollzug nicht in Frage zu stellen“, sei nicht auszuschließen, daß die Beamten „Abläufe manipuliert“hätten, klagt die Kripo. Zwar sei es gelungen, „eine Vielzahl von Informationen“zu bekommen. Es sei jedoch schwieriger gewesen, „verwertbare Erkenntnisse“zu ermitteln.

Der brisante Kripo-Bericht wird zur vertraulichen Verschlußsache erklärt. Am 10. Juli 1995 stellt die Kripo ihre Ermittlungen ein. „Die Arbeit war erledigt“, versichert Kripo-Chef Eckhard Mordhorst noch heute. In Polizeikreisen heißt es allerdings, das Justizressort hätte die Beamten mit Blick auf die bevorstehenden Bürgerschaftswahlen zurückgepfiffen. Die Beamten hätten sich anhören müssen, daß die Polizei die Justiz nicht zu kontrollieren habe (siehe taz 27.9.97). Im September 1995 wird der Bericht der Presse zugespielt. Der inzwischen zurückgetretene Justiz-Staatsrat Michael Göbel versichert: „Wir vertuschen nichts und haben nichts zu verbergen.“Der Bericht der Ermittlungsgruppe sei „sehr dünn“. Verwertbare Erkenntnisse seien schließlich nicht gewonnen worden.

Der Fall des „Carsten W.“wird neu aufgerollt. Ein zweites Gutachten wird angefordert. Die Bürgerschaft diskutiert über die Ermittlungsergebnisse der Kripo. Justizsenator Scherf behauptet, die Behörde habe erst nach der Presseveröffentlichung von dem Bericht erfahren. Daß das Justizressort allerdings vorher von dem Kripo-Bericht gewußt haben muß, ergibt sich aus einem vertraulichen Protokoll über ein Gespräch mit der Kripo und Vertretern des Justizressort bei Staatsrat Michael Göbel am 4. Juli 1995: „Anhand des Berichts der Kriminalpolizei“wurden Fälle besprochen, bei denen der Verfolgungszweck „nicht erreicht oder teilweise vereitelt wurde“, heißt es. „Wir haben den Bericht trotzdem nicht bekommen“, versichert Göbel heute noch. Albert Lohse, der ehemalige stellvertretende Polizeipräsident, hätte den Bericht nur kurz auf den Tisch gelegt und sofort wieder weggesteckt. Das könnten auch andere Gesprächsteilnehmer bezeugen. Auf die Frage, warum er den Bericht damals nicht angefordert habe, sagt Göbel: „Sie fordern doch auch nicht etwas an, was jemand offensichtlich nicht rausrücken will.“Auch darauf, warum er das Protokoll, von dem er eine Abschrift erhalten hat, nicht ändern ließ, hat er eine einfache Antwort: „Wir haben uns darüber amüsiert.“Er bleibt bei der Version, daß das Justizressort den Bericht erst nach der Presse erhalten hätte.

Auch das zweite Gutachten bringt keine Klarheit über die Todesursache von Carsten W. Der Häftling könnte an der noch nicht abgeklungenen Leberentzündung gestorben sein, mutmaßen die Gutachter. Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden gebe es nicht. Die beiden Knackis, die Carsten W. das Polamidon gegeben haben sollen, werden nicht gefunden. Im Dezember 1995 wird das Verfahren wieder eingestellt.

Vor wenigen Wochen ist Anklage gegen den Anstaltsarzt Fritsch erhoben worden, weil er die Polamidon-Vergabe dem Pförtner überlassen hatte. Das Amtsgericht hat das Verfahren gegen eine Geldbuße von 2.000 Mark eingestellt – mit dem Einverständnis der Staatsanwaltschaft. „Es hat in der Anfangszeit Schwierigkeiten bei der Methadonvergabe gegeben“, räumt Fritsch ein. „Aber das ist inzwischen alles behoben“. Ihm sei beispielsweise nicht bewußt gewesen, daß die Häftlinge die Polamidon-Reste aus den Flaschen zusammengekippt hätten. Daß das Polamidon, das Carsten W. geschluckt hat, aus diesem illegalen Vorrat stammen könnte, hält er „für reine Spekulation“. „Die Häftlinge erbrechen das Methadon sogar, um es später zu verkaufen“, erzählt Fritsch. Wahrscheinlich hätte Carsten W. das Polamidon „aus diesen Beständen“. Aber „so genau“könne er sich an den Fall „gar nicht mehr erinnern“.

„Ich denke oft darüber nach, ob es richtig war, meinen Sohn anzuzeigen“, sagt Renate W. Ihre Augen ruhen auf dem Geldschein. „Manchmal bereue ich es“, sagt sie. „Aber, ich habe es ja nur gut gemeint. Ich dachte, daß er im Knast wieder auf den rechten Weg gebracht wird. Plötzlich hebt sie ihren Blick und sieht ihrem Gegenüber geradewegs in die Augen. „Konnte ich denn ahnen, daß ich mich so getäuscht habe?“