Keine Angst vor Pathos

■ Am Sonntag wird Giorgio Battistellis Oper über die Zeit und die Langsamkeit im Theater am Goetheplatz uraufgeführt

Als Giorgio Battistellis „Experimentum Mundi“– eine „opera di musica immaginata“– vor zwei Wochen von den Handwerkern seines Dorfes im Theater am Goetheplatz aufgeführt wurde, war vielen klar: diesem Komponisten kann man nicht den üblichen Vorwurf machen, er komponiere an den Befindlichkeiten des Publikums vorbei. Daß man neue Musik mit einem nicht nur populären, sondern auch mit einem sozialkritischen Anspruch schreiben kann, dafür steht wie kaum einer in der Neuen Musik der 1953 in der Nähe von Rom geborene Giorgio Battistelli. Keines seiner Werke ist mit einem absoluten ästhetischen Urteil zu sehen, sondern steht stets in einem einerseits sozialen – mit den Handwerkern versucht er eine Welt festzuhalten, die auszusterben droht – , andererseits gattungsübergreifenden Kontext – Parameter wie Raum, Film, Wort, Geräusch haben diesselbe Gestaltungskraft wie die Töne und Harmonien. Mit „Die Entdeckung der Langsamkeit“von Sten Nadolny hat Battistelli einen Kultroman der achtziger Jahre vertont. „Ich habe das Buch gelesen und sofort den Autor angerufen, so begeistert war ich“. Morgen abend erlebt das Auftragswerk des Bremer Theaters seine Uraufführung.

Sten Nadolnys Geschichte des Nordpolfahrers John Franklin, der so langsam ist, daß er als Kind nicht einmal einen Ball auffangen kann und sich infolgedessen in der Welt anders einrichten muß, scheint alles andere als ein Opernsujet zu sein. Es enthält keine Dramatik, es ist sozusagen Philosophie. „Aber das Auseinanderziehen von Zeit kann auch ein ästhetisches Problem sein, und daran habe ich gearbeitet“, meint Battistelli. Außerdem verändert die Zeit den Gedanken, den Körper, „das ist darstellbar“. Der Komponist bezeichnet die Musik als eine Linse, durch die er „Dinge, die ich sehe, auch verändern kann“. Spannend sei auch das Verhältnis von innerem und äußerem Tempo. Sein Lehrer Hans Werner Henze hat Battistelli den politischen Blick gelehrt, aber auch: „Ich habe keine Angst vor Ausdruck, nicht einmal vor Pathos“.

Grundsätzlich hat das Komponieren für den ausgebildeten Schlagzeuger zwei Komponenten, „eine technische und eine anthropologische“: Ritus, Mythos, Archaik, Archetypus sind Begriffe, die sich durch sein Werk wie ein roter Faden ziehen. Aber: „Ich bin fasziniert von der Unreinheit, nicht von der Reinheit eines Stils“. Nach seinen Vorbildern neben Hans Werner Henze gefragt, sagt er: „Nur wenige werden bleiben – Henze, Ligeti, Stockhausen“. Aber was ist mit György Kurtag, mit Luigi Nono, mit Wolfgang Rihm? „Natürlich, die auch“. Für Giorgio Battistelli, ein sensibler und kommunikativer Zeitgenosse, ist die Liebe zu den Menschen, zu ihrem Kollektiv, weniger zu ihrer Individualität, der Motor seiner Arbeit: „Die Langsamkeit erlaubt es mir, zu spät im Alltag anzukommen“ist dem Komponisten der nahegehendste Satz seines Protagonisten John Franklin. Fast zu spät kam auch die Partitur in Bremen an, aber entgegen der Lebenshaltung des Protagonisten hat man am Goetheplatztheater den Uraufführungstermin morgen abend halten können. Regie führt Frank Hofmann, dem wir einen einfallsreichen Idomeneo verdanken. Die musikalische Leitung hat Günter Neuhold. Ute Schalz-Laurenze