Assistenz statt genormter Hilfe

Die Pflege Behinderter muß wieder nach Stundensätzen bezahlt werden, fordert  ■ Ralph Loell

Seit Januar 1997 bekommen die Pflegedienste Festbeträge für die Pflegeleistungen (Module), die von den Pflegekassen und vom Senat festgelegt und eingegrenzt sind. Diese Beträge umfassen sowohl die Organisationskosten für die Pflege als auch den Lohnanteil für die Pflegekräfte. Diese Vergütungsart lief als Modellversuch bis September und ist erst einmal automatisch verlängert worden.

Vor dieser Regelung war es so: Die Vergütung der Pflegedienste erfolgte nach einem festgestellten, individuellen Zeitbedarf nach Stundensätzen. Die hilfeabhängigen Menschen konnten so die Hilfe nach ihren persönlichen Erfordernissen in Anspruch nehmen. Reichte das Geld der Pflegeversicherung nicht aus, haben sie mit etwas Mut die ihnen nach dem Bundessozialhilfegesetz zustehende individuelle, bedarfsgerechte Hilfe beim Sozialamt beantragt.

Die Vergütung nach dem Zeitbedarf ist im Vergleich zu den Modulen flexibler und bietet den hilfeabhängigen Menschen die Möglichkeit, die „Assistenz“ als Hilfsmittel zur Gestaltung der eigenen Lebenswirklichkeit einzusetzen. Es konnte im Rahmen des Modulabrechnungssystems immerhin erkämpft werden, daß dies für Menschen mit einem Hilfebedarf von in der Regel acht Stunden täglich mit dem Modul „persönliche Assistenz“ möglich ist.

Mit einem Festbetrag, der für ein Modul gezahlt wird, müßten eigentlich die Leistungen ebenso individuell bedarfsgerecht erbracht werden wie bei der Stundenvergütung. Die Festbeträge für die Module sind jedoch so gering, daß dies nicht einmal bei einem „Durchschnittsmenschen“ möglich wäre. Am besten: die hilfeabhängigen Menschen funktionieren wie eine pflegeleichte Maschine, die nach Normzeiten gewartet wird.

Jetzt, wo auch auf parlamentarischer Ebene über die Erfahrungen aus dem Modellversuch diskutiert wird, besteht die Chance, eine Korrektur zu erreichen und wieder nach einheitlichen Stundensätzen zu vergüten. Denn es zeichnet sich deutlich ab: Die Modulpflege erzeugt höhere Kosten, die Qualität dagegen ist gesunken. Ein Beispiel dafür ist, daß Pflegedienste die sogenannte Hauswirtschaftspflege nicht mehr mit einem Stundenlohn, sondern im Akkord nach „abgehakten Modulen“ bezahlen.

Die hilfeabhängigen Menschen werden zu einem zu vermessenden und zu kontrollierenden Pflegeobjekt gemacht. Aus Sicht der Betroffenen muß zum Zeitvergütungssystem zurückgekehrt werden. Nur dieses ermöglicht eine angemessene Bezahlung der Pflegekräfte, die einerseits zu gutem Arbeiten motiviert und andererseits ihren Lebensunterhalt sichert.

Das Arbeiten bei einem hilfeabhängigen Menschen muß grundsätzlich so gestaltet werden können, daß dessen Entscheidungen zählen – auf der Grundlage gegenseitiger Achtung. Qualitätsmaßstab ist das selbstbestimmte Leben hilfeabhängiger Menschen.

In der Realität ist der Druck im Alltag zu einer „Satt – sauber – still“-Pflege größer geworden. Es zeigen sich schlimme Folgen für die Pflegekräfte: Personal wird entlassen oder unter Tarif entlohnt. Das Modulsystem provoziert geradezu „unterlassene Hilfeleistung“. Pflegekräfte, die diesen moralischen Druck nicht aushalten und sich gegen das System engagieren, werden entlassen.

Fatale Folgen hat dieses System für den hilfeabhängigen Menschen, den letzten in der Pflegekette. Qualität ist nur noch aus wirtschaftlicher Sicht wichtig. Sie findet nur auf dem Papier, in Form der aufgezwungenen Pflegedokumentation mit hohem Verwaltungsaufwand zur Kontrolle der hilfeabhängigen Menschen statt. Doch Qualität wird es nur dann geben, wenn der hilfeabhängige Mensch selbst entscheiden kann, wo, wann, wie und von wem er Assistenz (Pflege) in Anspruch nimmt. Meistens können sich die Hilfeabhängigen nicht wehren und haben keine große Lobby.

Sie sind Objekt einer Versorgung, die durch den Zwang zur Wirtschaftlichkeit Gewinn bringen muß. Ist dies nicht mehr möglich, wird der unrentable Mensch weitergereicht. Mit minimalem Aufwand wird dann seine Zeit bis zum Dahinscheiden überbrückt. Bei den Vergütungsverhandlungen zwischen Senat, Pflegekassen und Anbieterverbänden sind die Betroffenen nicht nur ausgeschlossen, sie haben auch kein Stimmrecht. Dabei müßten sie in dieser für sie lebensnotwendigen Frage ein Veto-Recht haben!

Mehr noch als vor der Einführung sind die Anbieter nach den Erfahrungen der ersten neun Monate in der Mehrzahl gegen das Modulabrechnungssystem. In den anstehenden Verhandlungen haben die Liga der Freien Wohlfahrtsverbände und die Privaten die Chance, zur rechten Zeit Zivilcourage zu zeigen. Es wäre ein Leichtes, aufzuzeigen, daß das „fachlich Gebotene“ nicht mehr zu leisten ist, weil allein die Kosten im Mittelpunkt stehen. Der Kampf der Betroffenen, vor allem das „Bündnis für selbstbestimmtes Leben“ behinderter Menschen und das Engagement von UnterstützerInnen – unter ihnen auch Abgeordnete, hat bisher das Schlimmste verhindert.

Der Autor ist Schwerstbehinderter und in hohem Maße hilfeabhängig. „Bündnis für selbstbestimmtes Leben“, c/o Ralph Loell, Taborstr. 10997 Berlin, Tel./Fax: 6116225