Alles ist längst erlebt

■ Der Atompilz ist wieder da! Mit Ratten aus dem Filmlabor, der Stimme der Thalbach und der Ästhetik von "Momo" kommt die Endzeitstimmung nach ihrem Ende auf den Schirm - Grass' "Rättin": 20.45 Uhr, arte; morgen 20.1

Die Apokalypse ist ziemlich aus der Mode. Weltuntergang? Kennen wir längst. Waldsterben? Halb so schlimm. Hungersnot? Weit weg. Katastrophenfilme (derzeit im Kino: „Volcano“) führen ritualhaft vor, wie sich im Untergangsszenario heroisch überleben läßt. Wenn alles in Scherben fällt, bauen wir es eben wieder auf. Hauptsache, Frau und Kind sind gerettet.

Wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit wirkt dagegen „Die Rättin“ – ein fürs Kinoformat produzierter Fernsehfilm nach dem gleichnamigen Roman von Günter Grass: Grünlich-gelb schimmert da der altvertraute Atompilz, es gibt keine Rettung, nirgends. Nur die Ratten überleben und übernehmen die Herrschaft über die verstrahlte Welt.

Grass' phantastischer Roman entstand aus dem Geist der frühen 80er Jahre, als Reagan Präsident, der Regen sauer und die Blockkonfrontation ein bedrohlicher Wahnsinn war. „Die Rättin“, 1986 erschienen, ist eine literarische Abschiedssymphonie, ein vielstimmiger, verzweifelter Versuch, die damals allgegenwärtige Apokalypse mit Sprachgewalt und der Kraft des Erzählens zu bannen.

Märchen gegen den Gang der Geschichte

Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, befindet sich in einem traumhaft-visionären Erzählduell mit der Rättin, und während sie ihm vom Untergang der Welt berichtet und ihn in einer Raumkapsel als letzten Überlebenden um die verbrannte Erde kreisen läßt, setzt er hartnäckig seine Geschichten dagegen: vom Schiff der Frauen, das zum feministischen Utopia Vineta unterwegs ist, von Oskar Matzerath, dem alt gewordenen Blechtrommler, der nun Videoproduzent ist und eine Reise zum 107. Geburtstag der Großmutter in Polen unternimmt, von Hänsel und Gretel im sterbenden Wald und vom Freskenfälscher Malskat aus Lübeck. Mythos steht gegen Rationalität, Märchenhaftigkeit gegen den unerbittlichen Fortgang der Geschichte, und es bleibt unbestimmt, wer am Ende die Oberhand behält. Ist es der Schlaf, der Traum der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, oder erträumt die durchaus menschenfreundliche Rättin die weltzerstörerische Vernunft?

Der Streit mit der Rättin könnte ein Delirium sein

Eine Verfilmung des disparaten Romanstoffs ist eigentlich unmöglich, und es hat auch zwölf Jahre gedauert, bis eine Drehbuchfassung vorlag, die Regisseur Martin Buchhorn, Fernsehspielchef des Saarländischen Rundfunks, und seinen Freund Günter Grass zufriedenstellte. Notgedrungen beschränkt sich das Drehbuch von Renate Frößdorf auf wenige Motive des Romans und erfindet anderes vorsichtig neu. Die Hauptfigur ist kein Schriftsteller, sondern, weil das filmtauglicher ist, der Bildhauer und Videokünstler Marcus Frank (Matthias Habich in einer großartigen Rolle). Er trinkt ziemlich viele harte Sachen, pöbelt bei einer Ausstellungseröffnung in der Rattenfängerstadt Hameln hochsympathisch das Publikum an und ist meistens so betrunken, daß der Disput mit der Rättin auch als Alkoholdelirium durchgehen kann. Frank ist verheiratet mit der blondgelockten Kapitänin Damroka (Sunnyi Melles) und macht sich große Sorgen um sie, die zusammen mit vier anderen Frauen über die quallenverseuchte Ostsee schippert, angeblich um die Quallendichte wissenschaftlich zu erforschen, tatsächlich aber, um Vineta zu suchen.

Franks Atelier besteht aus einer riesigen Videowand, auf der er den Briefträger vor der Haustür und das Weltgeschehen beobachten kann, auf der aber auch seine Träume und die der Rättin erscheinen. Hier betrachtet er Damrokas Suche nach dem versunkenen, goldenen Zeitalter des Matriarchats und verfolgt Oskar Matzeraths Polenfahrt im schwarzen Mercedes – eine Reise in die düstere Vergangenheit. Oskars Fahrer Bruno – der alte Pfleger aus der „Blechtrommel“ – ist ein Allzweck-Uniformträger, halb Butler, halb SS- Mann, halb Diener, halb Sadist. An der polnischen Grenze sehen die beiden, wie Ratten in großen Haufen verbrannt werden – Holocaust im Rattenland. Für die, die es noch nicht begriffen haben, sieht man immer wieder marschierende SS-Kolonnen, unter deren Stiefeln Ratten zerquetscht werden.

Doch die Vergangenheitsreise ist zugleich auch ein Blick in die Zukunft: Oskar hat zu Großmutters Geburtstag ein Video hergestellt, auf dem das Fest bereits vorproduziert ist. Alles ist längst erlebt, also läßt sich auch alles vorproduzieren. So sehen die staunenden Gäste, wie Bruno auf dem Bildschirm die Torte anschneidet, bevor er sie in Wirklichkeit zerteilt, und sie sehen auch den Atompilz erst als Filmbild, bevor er alle hinwegrafft. Nur Oskar ist noch da und kriecht Schutz suchend unter die weiten Röcke der glatzköpfig gewordenen Großmutter. So rundet sich das Schlußbild der „Rättin“ zum Anfang der „Blechtrommel“, die Zukunft greift in die Vergangenheit – ein Ineinander der Zeiten, das Grass in seinen Werken immer wieder als „Vergegenkunft“ inszeniert.

Die Apokalypse, in die 90er Jahre verlegt, ist ein mediales Ereignis. Wurde sie im Roman noch durch Ratten ausgelöst, die zeitgleich in Moskau und Washington die Zentralcomputer final beknabberten, ereignet sie sich nun ohne Erklärung und Ursache. Dem Untergang voraus ging eine weltweite Rattenplage. Die Nachrichten brachten Bilder aus Paris, von den ägyptischen Pyramiden und vom Brandenburger Tor, wo Menschen in Asbestanzügen gegen die Rattenscharen ankämpften. 500 lebende und 4.000 tote Ratten wurden für die Produktion benötigt. Der Rest wurde – wenig überzeugend – im Labor der Ludwigsburger Filmhochschule computeranimiert: Fremdkörper, in ihrer Künstlichkeit jederzeit erkennbar, glücklicherweise aber nur sehr sparsam eingesetzt.

Als sei es die Kombüse von Käpt'n Blaubär

Funktioniert die sprechende Rättin (mit der wunderbar zischelnden, boshaft kichernden Stimme von Katharina Thalbach) als Videobild noch einigermaßen, wirken die Schweineratten aus dem dänischen Genlabor so unbedarft wie aus der Frühzeit des Trickfilms. Wer Katastrophen made in Hollywood gewohnt ist, kann über diese Filmvisionen für die Sendung mit der Ratte nur lächeln: harmlose Märchenbilder in einer Ästhetik irgendwo zwischen „Lindenstraße“ und „Momo“. Die Szenen auf dem Frauenschiff könnten auch in der Kombüse von Käptń Blaubär entstanden sein.

Der Wirkung des Films kann man sich trotzdem nicht entziehen. Am Anfang braucht er allerdings lange, um in Gang zu kommen und die unterschiedlichen Handlungsstränge einzuführen. Da werden viele die Geduld verlieren – für Regisseur Buchhorn kein Problem: Die „Rättin“ gehöre zu den 20 Prozent ARD-Produktionen, die ohne Rücksicht auf die Quote gedreht werden, sagt er. Der Erfolg messe sich deshalb auch nicht an der Quote. Sechs Millionen Mark hat der Film gekostet, etwa 100.000 Mark davon nahm man aus Arte- Etats und gab den Straßburgern dafür das Erstausstrahlungsrecht. Grass selbst, der sich aus den Dreharbeiten völlig heraushielt, meinte nach der ersten Pressevorführung in Lübeck: „Ich weiß nicht, ob das ein guter Film war, den ich gesehen habe, aber ich weiß, es war ein starker, ein kühner Film, der neue Wege geht.“ Dem braucht man nichts hinzuzufügen. Jörg Magenau