Der Prozeß der Demütigung

Schwierigkeiten mit der Anständigkeit: Avishai Margalits „Die Politik der Würde“ ist eine wegweisende Studie über soziale Gerechtigkeit und Stigmatisierung  ■ Von Friedrich Balke

Es muß schon länger her sein, vermutlich während des Studiums, daß ich mit Leuten zu tun hatte, die, wenn sie sich verabschiedeten, regelmäßig zu der Formel griffen: „Und bleib anständig!“ Das war selbstverständlich hochironisch gemeint, aber bei mir stellte sich regelmäßig ein gewisser Widerwille dagegen ein, der wohl mit dem pädagogischen Verwendungskontext der Anständigkeitssemantik zusammenhing. Im übrigen pochten auf Anständigkeit durchweg diejenigen, die die politische und kulturelle Lektion von 1968 nicht begriffen hatten und die Wendung hin zu einer permissiveren Gesellschaft mit dem Hinweis auf ihre „unanständigen“ Folgen am liebsten rückgängig machen wollten. Und zeigte nicht die politische Geschichte dieses Jahrhunderts, daß es häufig genug unanständige Dinge waren, die die Entscheidungsträger in Gesellschaft und Politik als das genaue Gegenteil darzustellen wußten?

Was mochte, so war denn auch meine erste Reaktion, den renommierten israelischen Philosophen Avishai Margalit bewegt haben, seinem jüngsten Buch den Titel „The Decent Society“, „Die anständige Gesellschaft“ zu geben? Es ist wohl kein Zufall, daß die deutsche Ausgabe nun unter dem unverdächtigen, erhabenen Titel „Politik der Würde“ erscheint, der unmittelbar auf Artikel 1 GG anspielt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Gesellschaften, die diese Würde antasten, so weiß man, verletzen die Menschenrechte und verdienen dafür unsere unnachsichtige Kritik. Es handelt sich bei ihnen um autoritäre oder totalitäre Regime, um Einparteiendiktaturen oder um fundamentalistische Gottesstaaten, deren jeweilige Struktur und Funktionsweise umfassend und präzise zu analysieren ist: Was gewönne man, wenn man diesen Analysen noch hinzufügt, daß es sich bei diesen politischen Gebilden um „unanständige Gesellschaften“ handelt? Bringt diese Charakteristik mehr als die gerechte Empörung über die oftmals himmelschreienden Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck?

Margalits Antwort lautet: Ja. Sein Konzept der anständigen Gesellschaft ist so angelegt, daß es seine Konturen nicht allein durch den – wohlfeilen – Kontrast zu den Gefängnis- und Lagergesellschaften gewinnt. Selbst diejenigen Gesellschaften, die ihren Mitglieder nicht nur die Menschenrechte garantieren, sondern auch über umfassende soziale Sicherungssysteme verfügen, um sie gegen die Risiken von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter zu schützen, können unanständige Gesellschaften sein. So können auf ihrem Territorium Menschen leben, die eine bloß gerechte Gesellschaft nicht als Mitglieder anerkennt, indem sie ihnen etwa die Staatsbürgerschaft vorenthält oder die Arbeitserlaubnis verweigert: Sie dürfen, so Margalit, die „Drecksarbeit“ dieser Gesellschaft erledigen und sind ihren Arbeitgebern wie früher Sklaven und Leibeigene ausgeliefert. Das Kriterium einer anständigen Gesellschaft ist daher nicht einfach die gleiche Zuweisung von Rechten und Pflichten und die gerechte Verteilung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Güter an ihre Mitglieder, sondern eine institutionelle Praxis, die die Demütigung aller Menschen, die in ihrem Einflußbereich leben, ausschließt: „Eine anständige Gesellschaft ist eine nichtdemütigende Gesellschaft“, oder positiv formuliert: eine Gesellschaft, die den Menschen Achtung entgegenbringt.

Anders als John Rawls, der eine vielbeachtete „Theorie der Gerechtigkeit“ geschrieben hat, versteht Margalit sein eigenes Vorhaben nicht als einen theoretischen Entwurf, sondern als die Analyse von moralischen Begriffen, deren Besonderheit es ist, daß sie neben ihrer Bedeutung auch einen „Empfindungsgehalt“ besitzen, der sich weniger einer logischen als vielmehr einer szenischen Betrachtungsweise erschließt. Es sind keineswegs immer manifeste Handlungen, sondern für den „unparteiischen Beobachter oftmals kaum wahrnehmbare Gesten und Blicke“, die eine entwürdigende Wirkung erzeugen können. Die spektakulären Fälle der Menschenrechtsverletzung blenden uns allzu sehr, so daß wir dazu neigen, die mit dem „normalen“ Operationsmodus von Institutionen zusammenhängenden Demütigungen zu ignorieren. Wer über Demütigung spricht, darf von der Macht nicht schweigen.

Statt sich nun im einzelnen für die demütigenden Aspekte der konkreten Machtprozeduren zu interessieren, die sich in den westlichen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert immer stärker in die alltäglichen Lebensvollzüge der Bevölkerungen und der einzelnen hineinschieben, beläßt es Margalit, obwohl er Foucault zitiert, bei einer eher globalen Beurteilung des ethischen Wertes von Einrichtungen wie dem Strafvollzug oder der Wohlfahrtsgesellschaft (im Unterschied zur Wohltätigkeitsgesellschaft, die dem Bedürftigen der demütigenden Barmherzigkeit mildtätiger Spender ausliefert). Im Zentrum der Abhandlung stehen denn auch nicht zufällig „prinzipielle“ Fragen, wie sie Philosophen gerne stellen: Wann darf sich jemand zu Recht als gedemütigt fühlen? Margalits Antwort: Wenn er aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Wann wird jemand aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen? Wenn er so behandelt wird, als ob er kein Mensch wäre. Entscheidend für diese Auffassung ist, daß sie die Demütigung als einen wesentlich symbolischen Prozeß (selbstverständlich mit äußerst realen Konsequenzen) konzipiert – noch das äußerste Leid, das den Opfern zugefügt wird, um sie ihres Menschseins zu berauben, setzt bei den Tätern das Bewußtsein voraus, daß man es nicht mit Tieren oder Gegenständen zu tun hat: „Selbst der Erzrassist Himmler räumte in seiner Posener Rede vor SS-Kommandanten ein, daß zwischen der Vernichtung von Menschen und der Ausrottung von Ratten ein Unterschied besteht.“ Demütigung nötigt denen, die sie praktizieren, wider Willen die Anerkennung der Menschlichkeit des Gedemütigten ab, dadurch unterscheidet sie sich von bloßer Grausamkeit, die man auch Tieren zufügen kann. Demütigung im authentischen Sinne entsteht daher immer dann, wenn man Menschen nicht bloß als „etwas ganz anderes“ (Tiere, Gegenstände, Maschinen), sondern als Nicht-mehr-Menschen, als „Untermenschen“ behandelt.

Margalit legt zu Recht das ganze Gewicht seiner Argumentation darauf, daß es sich bei dem Prozeß der Demütigung nicht in erster Linie um den Ausdruck vorurteilsbeladener Ansichten oder Gedankensysteme handelt, sondern um „Haltungen, die tiefer verwurzelt und grundlegender sind als Ansichten oder Meinungen“. Wir „entscheiden“ uns nicht einfach, Menschen zu demütigen; um Menschen wie Tiere zu behandeln, müssen wir zunächst lernen, sie nicht länger als Menschen zu sehen. Keine Demütigung ohne eine vorgängige Stigmatisierung: „Stigmata sind das Kainsmal für die Menschlichkeit der Menschen.“ Ganz unterschiedliche Zeichen erfüllen die Funktion, Menschen in eine Situation zu versetzen, in der sie, wie Erving Goffmann in seiner klassischen Studie „Stigma“ definiert, „von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen“ sind.

Auch Margalit beruft sich ausdrücklich auf Goffmanns Studie: Allerdings besteht deren Pointe nicht, wie er behauptet, in dem banalen Nachweis, daß Stigmatisierte in ihrer sozialen Identität verletzt werden, sondern in der Beschreibung von „Techniken der Bewältigung beschädigter („spoiled“) Identität“. Könnte es sein, daß ausgerechnet der Soziologe, der, wie es Margalit darstellt, bloß an der sozialen Oberfläche von Stigmatisierungsprozessen kratzt, tiefer sieht als der Philosoph, der hinter das Soziale auf das „Menschsein“ durchgreift? Margalit und Goffmann sind sich einig in der Auffassung, daß eine stigmatisierte Sichtweise zweifellos erworben, sozial konditioniert ist. Aber aus der Tatsache, daß Stigmatisierung Schaden zufügt, sozialen oder „menschlichen“, würde Goffmann niemals folgern, was Margalit in der charakteristischen Pose des Aufklärers tut: „Was wir also brauchen ist ein ,astigmatisches‘ Sehen.“ Dagegen beschreibt Goffmann in seiner Studie die subtilen Mechanismen eines „Stigma-Managements“, das im Kern darin besteht, die Grenzen zwischen den „Normalen“ und den „Stigmatisierten“ aufzuweichen. Die Individuen lernen mit der Zeit, so Goffmann, „in dem Drama normal – abweichend, beide Rollen zu spielen“.

Die normalisierende Entzauberung des Stigmas, die Goffmann an der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft beobachtet, ist eine wirkungsvollere Strategie zur Herbeiführung einer anständigen Gesellschaft als der philosophische Traum von der entstigmatisierten „Familie der Menschen“. Daß alle Menschen Brüder sind und daß es darauf ankommt, von allem zu abstrahieren, was ihre Besonderheit ausmacht, um auf diese Weise zum „Allgemein-Menschlichen“ vorzudringen, ist die idealtypische humanistische Strategie in der Politik; auch wenn man sich jeden zynischen Kommentar über die politische Wirksamkeit einer solchen Strategie sparen sollte, wird man doch die Frage aufwerfen müssen, ob die Vermeidung von demütigender Exklusion nicht darauf angewiesen ist, daß sich die gesellschaftlichen Mehrheiten von dem „anstecken“ lassen, was sie auszuschließen bestrebt sind. Nicht die Aufhebung der stigmatisierten Besonderheiten in der Allgemeinheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, auch nicht die bloße Gleichberechtigung legitimer identitätsstiftender Gruppen unter dem Dach einer „hegemonialen Kultur“, von der Margalit spricht, sondern die „Selbstzersetzung“ eben dieser Hegemonie, der fortgesetzte Austausch zwischen einer dominanten „Wir-Gruppe“ und den vielfältigen Randgruppen, verhindert die Errichtung von impermeablen Stigmagrenzen. Weil uns, wie der liberale Ironiker Richard Rorty zu bedenken gegeben hat, die Identifikation mit der Menschheit nicht gelingt, sollten wir daran arbeiten, daß sich unsere jeweilige „Wir-Gruppe“ dem „Ziel der Ausdehnung, der Erschaffung eines immer größeren und bunteren ethnos“ verschreibt. Wenn die Rede von der Anständigkeit immer dahin tendiert, sich mit den Werten der dominanten Kultur aufzuladen, kommt es darauf an, daß eine anständige Gesellschaft sich den Kräften der Vermischung öffnet: In einem bestimmten Sinne hätte sie daher unanständig zu sein.

Avishai Margalit: „Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung“. Aus dem Englischen von Anne Vonderstein. Alexander Fest Verlag, Berlin 1997, 350 Seiten, 58 DM

Erving Goffmann: „Stigma“. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 179 Seiten, 17,80 DM