Das Drama der Freiheit

Als Spaziergänger durch die Philosophiegeschichte: Rüdiger Safranski begibt sich auf die Suche nach dem Bösen  ■ Von Hans R. Brittmacher

Wenn Serienkiller oder Kinderschänder (und neuerdings auch Paparazzi!) dem kulturellen Bewußtsein zu Ikonen werden, die ihm Auskunft über die moralische Verkommenheit einer Gesellschaft geben, stellt dies einen Härtetest für jene Theorien dar, die als Urheber privater Deformationen und sozialer Katastrophen ausschließlich Strukturen und Systeme, niemals aber das Individuum belangen wollen.

Daß in einer narzißtisch verödeten Kultur die Niedertracht, die Mordlust und das Selbstbewußsein von Figuren wie Dutroux oder Jeffrey Dahmer ästhetische Maßstäbe setzen, kann auch nicht begreifen, wer das Böse nur als sozialen Ernstfall, nicht als spielerische Imagination gelten lassen will. Zugleich demonstriert das Schicksal der beiden Schurken – im Leben ebenso wie in der Kunst –, daß längst schon das Böse nicht mehr den Tätern vorbehalten ist, sondern sich eine universale Geltung erschlichen hat; unfehlbar befällt es auch jene, die im Gedenken an die Opfer das Gute zu rächen suchen und dabei eine Vergeltungsmoral anheizen, die sich an den Tätern schadlos hält und in Phantasien von der Kastration des einen und der Hinrichtung des anderen schwelgt.

Die Brutalität, mit der eine scheinbar von der Aufklärung wegrationalisierte Gewalt sich zurückmeldet, frecher und grundloser denn je, und die Verlegenheiten einer liberalen Theorie mit der Lust an der Gewalt demonstrieren Defizite, denen die Reaktivierung einer alten theologischen Kategorie abhelfen soll: das Böse. Seit knapp zehn Jahren wird in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften wieder laut über diese lange verpönte Kategorie nachgedacht.

Die Autoren, die das Böse in seiner vielfältigen historischen Semantik traktieren, dürfen sich des Spotts derer sicher sein, die unverdrossen den Fehler im System suchen, und sie dürfen den Zorn jener erwarten, die den Menschen a priori von aller Schuld freisprechen wollen. Dank seiner im Verlauf der Kirchengeschichte erworbenen polemischen Energie erlaubt der Begriff des Bösen Korrekturen an jener liebgewordenen Vorstellung von einer gutmütigen, nur gelegentlich irrenden Menschheit – freilich um den Preis, das Böse, was immer es auch sein mag, dem Menschen als anthropologische Mitgift aufzubürden.

Gegen die allzu wohlfeile Dämonisierung des Bösen hatte Hannah Arendt die Formel von der „Banalität des Bösen“ geprägt; auch gegen die Anthropologisierung des Bösen kann diese Formel, wird sie rückwärts gelesen, von Nutzen sein: weil sie einen Blick freigibt auf den Abgrund der Normalität, jene entropische Verödung des Lebens, das sich in seiner Langeweile die Ekstasen der Gewalt zum ästhetischen Trend verklärt.

Der unvermeidlichen Anthropologisierung wegen wird der Diskurs des Bösen immer noch skandalisiert, was die eigentümlichen Idiome erklären mag, in denen er vorgetragen wird: mit herabgelassenem Visier, hinter vorgehaltener Hand, im Chitinpanzer des Begriffs, in bis zur Vernebelung aufgeblasener Unverständlichkeit, in der Geheimsprache der Esoteriker. Die Beherrschung eines Idioms scheint zwangsläufig das Unverständnis aller anderen nach sich zu ziehen. Die Vordenker des Bösen schweigen sich an oder reden aneinander vorbei.

Das unstrittige Verdienst des Buches von Rüdiger Safranski besteht nicht zuletzt darin, vom Bösen wieder elementar und esoterisch zu sprechen und das quecksilbrige Thema erneut einer verbindlichen Perspektive unterstellt zu haben: es ist die eines einsamen Spaziergängers durch die Geschichte der Philosophie, der sich des Gegenstandes eher kontemplativ als aktivistisch, eher nachdenklich als leidenschaftlich annimmt.

Wie wurde das Böse zu unterschiedlichen Zeiten erfahren, in welcher Gestalt ist der Mensch ihm begegnet, wie haben Religion und Philosophie von ihm gedacht? Diese scheinbar umfassende Aufgabenstellung verdeckt eine sachliche Entschärfung: denn nicht um das Böse als Skandal geht es in erster Linie, sondern um alles, was jemals als Übel und Unheil, als unzuträglich und bedrohlich, als fremd und beängstigend erfahren wurde; anders als in Verfeindungsverhältnissen hat der Mensch nie bestanden, und so erschien ihm das Böse nach Lage der Dinge mal als Gott und mal als Teufel, als Erfahrung von Kontingenz und Entropie, getarnt als politische Ideologie und Wissenschaft.

Zu seinen Ausflügen in die Philosophie- und Kulturgeschichte befähigen den Autor nicht nur seine profunden Kenntnisse, sondern auch seine seltene stilistische Begabung, dem Leser die Früchte seiner Lektüre anschaulicher, als diese sich ihm selbst dargeboten haben, präsentieren zu können. Bei einer solchen Tour d'horizon können Vereinfachungen, Zuspitzungen und Nachlässigkeiten allerdings nicht ausbleiben. Wenn das Böse so ziemlich alles ist, was einem Menschen zustoßen kann, verliert der ohnehin schon ausgefranste Begriff noch den letzten Rest an Distinktion.

Daß Zitate nicht nachgewiesen werden, mitunter kaum zuzuordnen sind, verdankt sich wohl dem zählebigen Vorurteil, schon die bloße Streichung von Fußnoten verwandle schwerverständliche Wissenschaftsprosa in leserliche Essayistik.

Aber derlei Petitessen dem Autor nachzurechnen, charakterisiert eher die Übellaunigkeit des Rezensenten als einen zweifelhaften Umgang des Autors mit seinen Quellen. Sich Gedanken über das Böse zu machen ist nicht das Vorrecht zünftiger Akademiker.

In seiner glänzend, gelegentlich sogar amüsant erzählten Geschichte des Denkens über das Drama der menschlichen Freiheit ermittelt Safranski das Böse als die allem Sinnverlangen sich verschließende Elementarkraft des Lebens, die dem Menschen „in der Natur [...], im Chaos, in der Kontingenz, in der Entropie, im Fressen und Gefressenwerden“ begegnet – und in seiner so beglückenden wie beängstigenden Möglichkeit, sein mangelhaftes Sein zu transzendieren. Die gewaltgesättigte Geschichte des ägyptischen und griechischen Götterhimmels und die widersprüchliche des alttestamentarischen Paradieses erschließen sich Safranski als Parabeln der Erfahrung, daß das Bewußtsein, weil es mehr ist als nur bewußtes Sein, Grausamkeit und Zerstörung um ihrer selbst willen wählen kann.

Die Kirchenväter trauten dem Menschen – anders als die antiken Denker – nicht die Fähigkeit zu einem gelingenden Leben zu; sie glaubten ihn unbegabt für eine Freiheit, die ihm ohnehin nicht als Geschenk gewährt worden war, sondern ihn als Strafe und Fluch treffen sollte.

So wenig der Obertitel „Das Böse“ für Safranskis kulturgeschichtlichen Abriß des Übels und der Verzweiflung taugt, so genau trifft der Untertitel „Das Drama der menschlichen Freiheit“ das Anliegen seiner Anthropologie, den Menschen bekannt zu machen mit seiner Möglichkeit, in Freiheit auch das Böse tun zu können.

Wer jedoch den Abgrund leugnet, der sich auftut, kaum daß der Mensch weiter denkt, als seiner Kreatürlichkeit zuträglich ist, begeht Transzendenzverrat – gewissermaßen die Erbsünde des profanen Menschen.

Dieses Vergehens, der unverzeihlichen Beschränkung des Menschen auf seine Eindimensionalität, haben sich die Ideologien und Naturwissenschaften zumal des 19. Jahrhunderts in großem Stil schuldig gemacht. Für den Ideologen schrumpft die Welt, dem Wissenschaftler wird sie zur Materie, die er nach Lust und Laune nötigen darf. Im Rassenwahn trieb die Hybris der Naturwissenschaften erste Blüten, in der Gentechnologie unserer Tage brütet der „Biofaschismus“ neue Ungeheuer aus.

Statt den Abgrund der Freiheit zu leugnen und damit die Epiphanie des Bösen als Wiederkehr des Verdrängten zu ermöglichen, gilt es ihn zu bedenken und sich mit ihm auszusöhnen. In 16 Kapiteln hat Safranski die Philosophie zum Plaudern gebracht, namentlich den deutschen Idealismus, dessen atemberaubende Spekulationen den Abgrund auszuloten wagten.

Im letzten Kapitel fällt der Autor seiner beherzten Empfehlung zum selbständigen Nachdenken über das Undenkbare und zum Ertragen auch unpopulärer Gedanken in den Rücken, wenn er für eine Religion wirbt, die der Welt ihr Geheimnis läßt und dem Mensch das Recht auf seine Fassungslosigkeit: „Die Religion mutet dem Menschen das Eingeständnis der Ohnmacht, Endlichkeit, Fehlbarkeit und Schuldfähigkeit zu. Und sie macht sie zugleich lebbar.“

Nach dem couragierten Bekenntnis zu einer Anthropologie des menschlichen Seinsmangels, die mit der Freiheit auch die Abgründe des Menschenmöglichen trotzig bejaht, wird man die Empfehlung zu metaphysischer Zuversicht und einer blindwütigen Frömmigkeit, wie sie am Schluß des Buches dem Leser als Abschiedsgeschenk ans Herz gelegt wird, dem Autor nachhaltig verübeln. Denn hier geht der religiöse Bodensatz seines Denkens mit dem Parlando-Stil der Darstellung eine unerfreuliche Verbindung ein. In einer dem Buch sonst fremden Unbedenklichkeit werden Breitsalven gegen die (Natur-)Wissenschaft gefeuert, wird plötzlich zwischen echten Religionen und ihren künstlichen Surrogaten unterschieden und eine Redämonisierung Hilers (wenn auch nicht mit einem theologischen Begriff der Dämonie, sondern dem Goethes) betrieben. Die von den Religionen verordnete und dem Leser empfohlene Fassungslosigkeit angesichts unverfügbarer Existentiale, eine „Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren“, wie sie Safranski zuvor beschrieb, hätte ihm auch am Schluß des Buches gut angestanden.

Rüdiger Safranski: „Das Böse oder das Drama der Freiheit“. Carl Hanser Verlag, München, Wien 1997, 45 DM