Bomben und Riesendildos

■ Aus dem irischen Bürgerkrieg: Romane von Robert McLiam Wilson und Patrick McCabe

Jake ist ein pazifistisch angehauchter Loser der westlichen Welt und in den Tiefen seines Gemüts mit einem heftigen Widerwillen gegen Ideologien gesegnet. Sobald Aoirghe oder ein anderes militant-katholisches Mädchen republikanisches Nationalbewußtsein einfordert, spielt er nicht mit. Jede Bombendetonation in Belfast bestätigt ihm, daß es im nordirischen Bürgerkrieg schon lange nichts mehr zu verstehen gibt. Trotzdem liebt er diese Stadt, in der es zarte Seelen keinen Tag aushalten würden. Er und seine Freunde aus der Eureka Street könnten nirgendwo anders leben.

Chuckie etwa, Jakes Freund. Eigentlich geht es nicht an, daß ein fetter Protestant wie er in der wilden Katholikenclique mitmischt. In McLiam Wilsons Belfaster Topographie allerdings ist jenseits aller ideologisch-konfessionellen Versteinerungen so gut wie alles möglich. Chuckies Mutter zum Beispiel gerät zufällig in die grauenhafte Verwüstung nach einem Bombenanschlag und liegt Wochen katatonisch im Bett. Aber ausgerechnet der Schock führt zum Coming-out der Mitfünfzigerin. Dem Bett entstiegen teilt sie es fortan mit der Jugendfreundin. Und Chuckie selbst wird, was niemand für möglich gehalten hätte, zu einem begnadeten Absahner und schwerreichen Geschäftsmann in einer Stadt, die am Subventionstropf hängt. Ein Teil der Gelder aus London, Brüssel und dem Rest der Welt landet bei Chuckie, der wie die meisten Belfaster ein Soft Target ist. Also keiner, der zurückschießen könnte, sollte ein protestantischer Sektierer oder IRA-Untergrundkämpfer ihn ins Visier nehmen.

Im November 1987 etwa tötete eine 20-Pfund-Bombe der IRA elf Menschen, 61 wurden zum Teil schwer verletzt. Kurz darauf schossen protestantische Paramilitärs fünf katholische Jugendliche auf offener Straße zusammen, wobei vor allem die Terrortruppe „Ulster Volunteer Force“ in den letzten Jahren alle ideologischen Tarnmäntelchen fallen ließ und in gemischt-konfessionellen Stadtteilen auch Protestanten ermordete. Britische Armee und nordirische Polizei spielen dabei eine unrühmliche Rolle, willkürliche Hausdurchsuchungen und Prügel sind an der Tagesordnung.

In „Eureka Street, Belfast“ wird Jake zum Opfer eines protestantischen Polizisten, der ihn vor der Wohnungstür zusammenschlägt. Dummerweise bekommt Aoirghe Wind von der Geschichte, informiert amnesty international, und Jake wird über Nacht wider Willen zum Helden der katholischen Sache. Ironie der Geschichte: Der Polizist schlug aus privaten Gründen zu und hatte allen Grund.

Daß der 33jährige Robert McLiam Wilson in seinem dritten Roman ironisch mit Erwartungshaltungen spielt und eine derartige Fülle von Geschichten parat hat, daß er locker mehrere Romane füllen könnte, hat unter anderem mit seiner eigenen Biographie zu tun. Als Fünfzehnjähriger verließ er das katholische Elternhaus, da Mama und Papa etwas gegen seine erste Romanze mit einem protestantischen Mädchen hatten. Robert wurde zum Belfaster Streetboy, sog sich mit nordirischem Leben voll und schaffte mit 25 die Aufnahmeprüfung zum Literaturstudium in Cambridge. Nach zwei Jahren allerdings hatte er die Schnauze voll und wollte selbst einen Roman schreiben.

Gott sei dank, denn ansonsten wäre der literarischen Welt ein begnadeter Erzähler abhanden gekommen, der nun seine literarischen Lehrjahre in Gestalt eines verdreckten Knaben wiederaufleben läßt. Roche wird daheim geprügelt, Jake nimmt ihn auf, wimmelt ihn aber schnell wieder ab. Die Angst, als Kinderschänder denunziert zu werden, ist zu groß.

Die Roche-Geschichte ist einer von McLiam Wilsons virtuos verschlungenen Erzählsträngen. Seine Spezialität: er reißt Stories an, wechselt am spannendsten Punkt in eine andere Geschichte und läßt das vorläufige Ende der ersten wie eine Starkstromleitung in der Luft hängen. Die Pointe liefert er in einem unerwarteten Moment nach, wie im Falle von Chuckies gewagtem Einstieg ins Geschäftsleben. Der bietet per Inserat Riesendildos an – eine bescheurte Idee im bigotten Nordirland, wie Jake meint. Dubios ist auch, daß Chuckie nur einen Riesendildo auf Lager hat und auf die erwartete Bestellflut gar nicht reagieren könnte.

Aber plötzlich ist doch der Grundstein für seinen Reichtum gelegt. Des Rätsels Lösung könnte hier verraten werden, zuvor allerdings muß noch gesagt sein, daß die „Eureka Street, Belfast“ in den vorletzten nordirischen Waffenstillstand mündet. Am 1. September 1994 legte die IRA die Waffen nieder, im Roman verläßt Chuckie zum ersten Mal Belfast und fliegt der Frau seines Lebens in die USA nach. Dort erfährt er, daß er Vater wird und nimmt nebenbei schwerreiche US-Unternehmer aus, während der ewige Loser Jake eines Morgens ausgerechnet neben der entspannt an seiner Seite schlummernden Aoirghe aufwacht. Über mehr als vierhundert Seiten schlugen sich die beiden schier die Schädel ein, aber plötzlich herrscht die Ruhe zufriedener Körper. Die allerdings hat was Trügerisches, wie jeder nordirische Waffenstillstand.

McLiam Wilson, der mit seinem Erstling „Ripley Bogle“ auf Anhieb zum Star in der Garde junger irischer Erzähler avancierte und gerade in bester irischer Tradition seinen Umzug nach Paris vorbereitet (siehe Joyce und Beckett), ist eine raffinierte Liaison von skurrilen Geschichten und einer Bürgerkriegssituation gelungen, zu der der 42jährige Patrick McCabe schon aufgrund seines Wohnorts Distanz hat. McCabe lebt in Sligo an der Donegal Bay, einer kleinen Stadt etwa dreißig Kilometer von der nordirischen Grenze entfernt. Mit seinem Roman „Der Schlächterbursche“, von Neil Jordan gerade verfilmt und in einer Adaption am Stuttgarter Staatstheater inszeniert, machte er Furore. Jetzt erscheint bei uns sein Erstling.

Mit „Carn, Stadt an der Grenze“, 1989 in England verlegt, taucht McCabe nicht in aktuelle Bürgerkriegswirren ein, sondern spürt den historischen Verästelungen des Konflikts nach. Ausgangspunkt ist eine Kleinstadt direkt an der Grenze zu Nordirland, in die James Cooney, ein typisch irischer US-Selfmademan, zurückkehrt. Wir sind in den sechziger Jahren, Cooney findet ein trostloses Kaff vor und baut eine Geflügelfabrik. Die Stadt boomt, andere Nestflüchtlinge kehren heim, und wenn die IRA auf die nahegelegene Grenzstation einen Anschlag verübt, ist das wie eine Nachricht aus einer anderen Welt. Benny Dolan dagegen, dessen Vater irischer Freiheitskämpfer war, ist merklich beeindruckt, wird von der IRA rekrutiert, erschießt bei einem mißlingenden Attentat einen Unbeteiligten und stürzt Frau und Kinder ins Unglück. Auch der Stern der Stadt sinkt rapide, sobald James Cooney sein Geld abzieht.

Im Gegensatz zu McLiam Wilson bleiben McCabes männliche Figuren relativ abstrakt. Unternehmer Cooney etwa fehlen lebensweltliche Zusammenhänge, er steht eher für die Ironie kapitalistischer Konsumkreisläufe und baut parallel zur Geflügelfabrik das größte Pub der Gegend – damit der Rückfluß der von ihm ausgezahlten Löhne gesichert sei.

In der Figurenzeichnung spannend wird es, wenn McCabe untergründigen Sehnsüchten, Deformationen und Obsessionen wie im Falle Sadie Rooneys nachgeht. Sie will eigentlich weg aus dem Kaff und verpaßt die einzige Chance. Das erste Irish-Folkfestival geht in Carn zu Ende, und die Motorradclique aus London zieht wieder ab, ohne daß Sexy Sadie auf einem Sozius sitzen würde.

Josie Keenan dagegen kommt wieder zurück nach Carn, bleibt aber der Outcast, der sie schon als Jugendliche war. Am Ende steht das Alkoholdelirium, obwohl sie dem Bürgermeister und Fußballvereinsvorsitzenden der Kleinstadt geheime Wünsche erfüllte, von denen Ehefrauen nicht einmal zu träumen wagen. Zum Schluß führt McCabe alle Fäden zum Showdown zusammen und läßt sowohl den Bürgermeister als auch Josie zu Opfern des mißlingenden IRA-Attentates werden.

Weit hergeholt ist das nicht, wie die Autobiographie von Eamon Collins zeigt, die zur Buchmesse erscheint. Der Ex-Planungsoffizier der IRA bereitete Bombenanschläge und Exekutionen sogenanter „Legitimate Targets“ vor, also Angehöriger der britischen Armee und Polizei. Er bekam Zweifel und distanzierte sich unter anderem deshalb von der IRA, weil seine Planungen zu häufig durch Zufälle ad absurdum geführt wurden. Die Opfer waren Soft Targets. Jürgen Berger

Robert McLiam Wilson: „Eureka Street, Belfast“. Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1997, 432 Seiten, 44 DM

Patrick McCabe: „Carn, Stadt an der Grenze“. Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Rotbuch Verlag, Hamburg 1997, 240 Seiten, 36 DM

Eamon Collins: „Blinder Haß. Autobiographie eines irischen Terroristen“. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 1997, 432 Seiten, 44 DM