piwik no script img

Verführen, entführen

■ Ein Hochhaus voller Menschen: Eva Demski erzählt von einem Mord und von den Wechselfällen deutscher Geschichte: "Das Narrenhaus"

Eine „Geschichte, die man rauskriegen will“, offenbart der Erzähler aus dem „Narrenhaus“, „ist wie ein großer Fisch, man muß Leine lassen und manchmal stillhalten, sonst verschwindet sie wieder, oder man erwischt nur den Kopf und nicht den Rest.“ Mit Lupo Dienheim, mit kleinem v. an vergessen-feudale Herkunft gemahnend, schickt Eva Demski einen vorzüglichen Geschichten- Angler aus, mit viel Zeit und Geduld und dem Gefühl für den richtigen Augenblick. Daß sich im Laufe der Geschichte die Angelfäden verwirren und der Erzähler manchmal den Überblick verliert, liegt nicht an ihm oder seiner Erfinderin Demski, sondern am Leben selbst, das sich eigenwillig fortspinnt und anderen Gesetzmäßigkeiten folgt, als es die Schreiberlinge im Fernsehen erlauben.

Die Geschichte, die der alte und „seitdem das Fernsehen für die Quote die Beine breit macht“ eigentlich überflüssige Fernsehrequisiteur an der Angel hat, durchzieht die 14 Stockwerke eines Hochhauses am Rande der Mainmetropole. Das Haus, „ein graues Gebirge mit gleichmäßigen Löchern“, in dem keiner weiß, „wie die Sünden und Wohltaten verteilt sind“, verknüpft die Lebensfäden der Heruntergekommenen und der Aufstiegswilligen, der alten und neuen „Rübergekommenen“ aus dem Osten und der gestrandeten „Assis“, diesem Menetekel der Abstiegsgefährdeten.

Über dem Kellerreich des Requisiteurs residiert im Parterre die ehemalige Stasimuse und Hausmeisterin Heisterberg, auf deutsche Zucht und Ordnung spezialisiert, darüber schichten sich die stilbewußten Witwen aus den „besseren Tagen“, Maffy und Pauline, das diskret-perverse Ehepaar Seidenzar, Ruhnke, das Überbleibsel aus Preußens Glanz und Gloria, die drei freundlichen Transvestiten in der siebten Etage, und in der neunten, mit Lorgnette und überlebter Würde, die Dame des Hauses, Felici. Die Abgeschobenen und Ausgespieenen aus aller Herren Länder hat es, frei von der Last bürgerlicher Unterscheidung, fast unter den Himmel verschlagen, darunter auch das mongoloide Kind Markus, das mit seinen orakelhaften Sätzen die Ordnung im „Narrenhaus“ wiederherstellt. Über alledem schwebt der einbeinige Philanthrop und Säufer Christian, bei dem die Fäden, an denen zu ziehen er sich weigert, zusammenlaufen.

Niemand hat sich ausgesucht, hier zu leben, doch als Pauline eines Tages „abgefackelt“ aufgefunden wird, ist es aus mit der dezenten Hochhausanonymität. Paulines Tod und das Geheimnis um das „Fliederbaumkabinett“, jener berühmten und verloren geglaubten Miniatur aus dem 15. Jahrhundert, stiftet eine explosive Gemeinschaft aus feindlich Verschworenen. Im kunsthistorischen Bild des „Fliederbaumkabinetts“ wiederholt Demski das Motiv der vielen kleinen Schicksale in den Hochhauswaben; Bilder, aus denen der Erzähler ein Gesamtbild zusammensetzt, das den Kriminalfall in die Wechselfälle der deutschen Geschichte einbettet. Es liefert den kulturkritischen Kontrast zur Fernsehrealität und ihrem Verschleiß an Bildern und Gesichtern, ihrer modernen Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen, jenen Requisiten eben, die Dienheim zum Leben erweckt.

Lebendig und erfrischend originell sind auch die Bewohner, die Demski im „Narrenhaus“ ansiedelt, allen voran der „Lumpensammler“ Dienheim in seiner eingestandenen, sympathischen Mittelmäßigkeit, ohne beruflichen Ehrgeiz, weil in Liebesdingen ablenkungsbereit und verantwortungsscheu über die vierte Scheidung hinaus. Doch auch die vielen Nebenfiguren gewinnen detailversessene Kontur. „Ich will das Tempo bestimmen und die Pausen setzen, wie es mir paßt“, grenzt sich der Erzähler von den laufenden TV-Bildern ab und temperiert die Atmosphäre, sprachlich grazil und ohne den Spannungsfaden reißen zu lassen.

So wie Dienheim aus den naturalistischen, „schwarzweißen“ Zeiten des Fernsehens stammt, steht Demski in der Tradition einer erzählversessenen Literatur, die vor allem „verführen und entführen“ soll. Das mag altmodisch wirken und ist doch so ganz und gar erholsam im einfallslosen Stakkato der Parataxe, mit dem uns neuerdings die jüngere Autorengeneration malträtiert. Ulrike Baureithel

Eva Demski: „Das Narrenhaus“. Roman. Schöffling & Co., Frankfurt/Main 1997, 447 Seiten, 45 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen