Schmetterlingssammler

Heimholung eines Dichters: Die erste russische Nabokov-Biographie ist auch die erste ins Deutsche übersetzte  ■ Von Karl-Markus Gauß

Fünfzehn Jahre hat Vladimir Nabokov in Berlin im Exil gelebt. In dieser Zeit hat er unter dem Pseudonym Sirin neun Romane in russischer Sprache verfaßt und sich und seine Familie als Privatlehrer für Russisch, Englisch, Französisch und Tennis, aber auch mit dem Erfinden von Kreuzworträtseln und Schachaufgaben für diverse Zeitungen durchgebracht. Damals, in den zwanziger Jahren, lebten 200.000 Russen in Berlin, die sich in Tages- und Wochenzeitungen bis aufs bei Attentaten reichlich vergossene Blut darüber stritten, ob man die Monarchie wiedereinführen solle, eine bürgerliche Demokratie zu begründen habe oder auf ein starkes faschistisches Deutschland setzen müsse.

Von diesem Exil, seinen geistigen Leistungen, seinem künstlerischen Reichtum ist fast nichts geblieben. Die Exilrussen – längst nicht alle stupide Reaktionäre oder verjagte Latifundienbesitzer – waren unheilvoll in Intrigen, Fraktionskämpfe und eine alles verzehrende Romantik der Rückkehr verstrickt. An den Deutschen waren sie in der Regel so desinteressiert wie diese an ihnen. Selbst das Sprachgenie Nabokov, der Weltliteratur in zwei Sprachen, auf russisch und englisch, schrieb, lernte in Berlin nicht mehr als ein paar Brocken Deutsch und gewann keinen einzigen Deutschen zum Freund.

In dieser Abkapselung glich Nabokov den allermeisten russischen Emigranten, von denen er sich sonst in seinem Tun und Trachten erheblich unterschied. 1899 in St. Petersburg geboren, wuchs Nabokov in einer der reichsten Familien und ältesten aristokratischen Dynastien Rußlands auf. An die Kindheit und die Jugend im St. Petersburger Stadtpalais oder auf dem wälderumrauschten Landgut der Familie sollte sich der Dichter immer wie an ein verlorenes Paradies erinnern. Aber, und das macht die Größe des herrischen, menschliche Nähe zumeist schroff verweigernden Nabokov aus: er verströmte seine Energien nicht in den Haß auf die Kommunisten, die seinen Besitz enteignet und die Familie vertrieben hatten. Ihm genügte es, die Welt der Kindheit in der Literatur, in der Sprache, in den Lauten und Tönen, den fein nuancierten Farben, Dingen, Worten der Dichtung wieder zu errichten. Nabokov hat nicht um den verlorenen Besitz getrauert, sondern dessen Schönheit in seinen Berliner Romanen gefeiert.

Der letzte und bedeutendste dieser auf russisch geschriebenen Romane, „Die Gabe“, führt in einer Nebenszene einen erheblich vertrottelten Mann ein, der einem Dichter die Geschichte erzählt, die er schreiben würde, wenn er nur ein wenig Zeit für derlei Dinge hätte. Und er erzählt ihm haargenau jenen Roman, mit dem Vladimir Nabokov viel später selber berühmt werden sollte: den Roman des alternden Mannes, der eine Witwe heiratet und deren heranwachsender Tochter in einer skandalösen Liebe verfällt – „Lolita“.

Als Nabokov mit 60 Jahren durch die frühreife Lolita wieder reich wurde, sollte er längst als Amerikaner gelten. Er, der 1919 aus Rußland nach Berlin geflohen, von dort 15 Jahre später nach Paris weiteremigriert war, hatte 1940 mit seiner jüdischen Frau Vera und seinem Sohn Europa verlassen müssen. Indes ihn ein Schiff nach New York brachte, hatte er sich schon entschieden: Er, der als der feinste Stilist der russischen Exilliteratur geachtet war, wechselte nach seinem neunten Roman und mit immerhin 40 Jahren nicht nur den Kontinent, sondern auch gleich die Sprache. Und wählte, in seinen eigenen Worten, anstatt des geschmeidigen Russisch ein „zweitklassiges Englisch“. Erst in dieser Sprache aber wird aus Sirin, der nur in den enggezogenen Zirkeln der russischen Emigranten von Paris und Berlin bekannt war, jener Nabokov, dessen Bücher um die Welt gehen. Nichts als staunen muß man über die ungeheure Lebenskraft und Lebensfreude Nabokovs, der sich, ohne zu klagen, in drückende materielle Not schickte und sich offenbar gänzlich frei von Anfechtungen und Zweifeln über Jahrzehnte in einer aufreibenden Doppel-, ja Dreifachexistenz erprobte.

Denn auch in den USA war es in den ersten Jahren für ihn wahrlich nicht einfach. Um die Existenz bestreiten zu können, lehrte er Russisch an einem provinziellen College; zugleich machte er aus seiner Leidenschaft für das Jagen und Sammeln von Schmetterlingen eine wissenschaftliche Arbeit und wurde Fellow am Institut für Vergleichende Zoologie der Universität Harvard. Und nebenbei tat er, was ihm das Wichtigste von allem war, er schrieb auf Tausende kleiner Karteiblätter Romane, in denen er sich als einer der großen Sprachspieler der amerikanischen Literatur erwies.

Auch dieser dritte Lebensabschnitt Nabokovs erstreckt sich wieder über etwa 20 Jahre, wie die beiden vorangegangenen, der russische von Kindheit und Jugend, der des europäischen Exils in Berlin und Paris. Dann werden ihn der Skandalerfolg und die Verfilmung der „Lolita“ aller materiellen Sorgen entheben. Und Nabokov läßt sogleich alles stehen und liegen, kehrt für seine letzten 20 Jahren nach Europa zurück, wird Schmetterlinge künftig wieder nur als Privatmann mit dem Netz in den Schweizer Bergen jagen, und bezieht bis zu seinem Tod 1977 eine Luxussuite im Palace-Hotel in Montreux.

Noch zu Lebzeiten wird er zum Regenten einer weltweiten Gemeinde von Verehrern, die sich auch ein literaturwissenschaftliches Amtsblatt, „The Nabokovian“, schafft. Eine erste amerikanische Biographie entsetzt Nabokov, weil er sich darin als Objekt psychoanalytischer Spekulationen wiederfindet; eine zweite erreicht unter seiner lenkenden Mitarbeit einen halboffiziellen Status. Aber erst jetzt, 20 Jahre nach seinem Tod, ist die erste russische Biographie des geborenen Russen erschienen, der während des Kommunismus als dekadenter literarischer Snob gebannt war, und diese Biographie ist seltsamerweise auch die erste, die ins Deutsche übersetzt wurde.

Was Boris Nossik auf 450 kurzweiligen, von einer wahrlich verehrenden Liebe durchwehten Seiten versucht, ist nichts anderes als die Heimholung Nabokovs. Die Heimholung eines großen Dichters, der den Russen nicht nur von den Kommunisten gestohlen wurde, sondern ein wenig auch von den westlichen Lesern und Interpreten, deren Studien Nossik als „allzu unrussisch“ tadeln muß. Die konsequente Rerussifizierung des Autors, der nur ein Viertel seines Lebens in Rußland verbracht und seine bekanntesten Bücher in amerikanischem Englisch verfertigt hatte, zeitigt auch seine unfreiwillig komischen Seiten – etwa wenn Nossik Nabokov nicht bloß zum Russen, sondern gleich zum guten Menschen aus dem alten Rußland machen will. Derlei muß bei einem Mann scheitern, zu dessen Begabungen das Verlachen des eigenen Elends gehörte, der aber auch taub für die Leiden und Nöte der Mitmenschen war und von sich selber einmal gesagt hat: „Ich habe nie die Notwendigkeit empfunden, anderen zu helfen.“

Gleichviel – alles in allem hat Nossik eine spannend erzählte und gut geschriebene Biographie vorgelegt, das farbige Lebensbild eines Autors, der seine Existenz in vielfacher Brechung und Spiegelung seinen Romanen selber eingeschrieben hat.

Borris Nossik: „Nabokov. Die Biographie“. Aus dem Russischen von Thomas und Renate Reschke. Aufbau Verlag, Berlin 1997, 463 Seiten, 68 DM