Frühlingserwachen

Ein neuer Prosa-Bilderbogen zur deutschen Nachkriegsgeschichte: Friedrich Christian Delius schreibt weiter an seiner episodischen Autobiographie  ■ Von Hannes Krauss

Wenn demnächst die Feierlichkeiten zu „Dreißig Jahre 1968“ anstehen, wird man durchaus selbstkritisch eigener und fremder Aktionen gedenken und doch das Wichtigste verschweigen, weil der Rückblick sich auf das Politische verengt. Die Sorge, sich keine Blöße zu geben, ist unter Veteranen lebendig. Unter der Macht des Fazits und der Analysen gerät die private Dimension der Geschichte aus dem Blick. Dabei waren doch die meisten der ohnehin symbolischen Aktionen geprägt von persönlichen Motiven. Es gibt zwar Versuche der literarischen Aufarbeitung, aber die sind entweder gedrucktes Privattagebuch oder (wie Bernward Vespers „Reise“) zwischen die Spalten der Literaturgeschichte gerutscht.

Deshalb sind die Erwartungen hoch, wenn jetzt Friedrich Christian Delius eine neue Folge seiner Prosa-Bilderbogen zur deutschen Nachkriegsgeschichte vorlegt. Schließlich hat dieser Autor wie kaum ein anderer sich auf die Katastrophen und Belanglosigkeiten von vier Jahrzehnten deutscher Zweistaatlichkeit eingelassen und in mikroskopischen Schnitten die Innenseite der Historie herauspräpariert. Über die Einführung in die subjektive Dimension von außerhalb seiner Erfahrung liegenden politischen Sensationen – meist aus dem Umfeld der Ereignisse, die mal poetisch als „Deutscher Herbst“, mal polemisch als „Terrorismus“ bezeichnet werden – hat er sich an die eigene Biographie herangeschrieben; an seine individuellen, gleichwohl generationstypischen Ängste, Hoffnungen und Demütigungen.

Die neue Erzählung setzt das mit „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ begonnene Projekt fort. Allerdings funktioniert die Methode, Erinnerungsfragmente an einen später historisch genannt werdenden Tag zu notieren, hier weniger überzeugend. Die Geschichte vom Germanistikstudenten Martin, der am 5. Februar 1966 halbherzig-erregt an der ersten großen Vietnam-Demonstration in West-Berlin teilnimmt und in Wahrheit doch vor allem danach sinnt, die demütigende – beileibe nicht platonische, notgedrungen aber distanzierte Beziehung zu zwei sehr unterschiedlichen Frauen endlich zu konkretisieren (was ihm eher schlecht als recht schließlich mit einer dritten gelingt), öffnet zwar auch den Blick auf verdrängte Dimensionen der Zeitgeschichte. Der wird aber immer wieder abgelenkt durch Kommentare und Explikationen und einen merkwürdigen Bekenntniston, der sich in die lakonische Beschreibung mischt. Das mag beabsichtigt sein – gewissermaßen als Versuch, die Wahrnehmungsperspektive des Jung- Studenten zu simulieren –, befrachtet den Text aber mit jenem Bierernst, gegen den er doch eigentlich anschreibt. Die Erzählung ist unverhüllt autobiographisch geprägt. Nach dem Tod des Vaters und dem Umzug in die Metropole ist ihr Protagonist zwar physisch den Zwängen des Elternhauses entronnen, das hat ihn aber mit Schuldgefühlen und Skrupeln, vor allem aber mit seinem Sprachfehler noch immer im Griff. Schreibend versucht er zu entkommen.

Die Klarheit, mit der die täglichen Artikulationsprobleme in kunstvoll-prägnanter, präzise reflektierender Sprache geschildert – und also überwunden – werden, ist mitunter getrübt durch altkluges Resümee. Überzeugend dagegen die immer wieder aufblitzende Verschränkung von politischer Symbolik und privater Not, die zeigt, daß die Repression der fünfziger Jahre sich nicht mit politischen Ritualen begnügt, sondern – nicht nur bei Pfarrerssöhnen – in den Körper eingenistet hatte. Insgesamt bietet das Buch eine seltsame Mischung aus Kunst, Gebrochenheit und Banalität.

Jüngere mag die Direktheit irritieren, mit der hier ein Fünfzigjähriger die Nöte seiner verspäteten Pubertät ausbreitet. Gerade dadurch aber wird die Erzählung zum authentischen Zeugnis einer Generation, deren „Frühlingserwachen“ weniger pathetisch als zur Jahrhundertwende verlief, vielleicht aber ein Stück mühseliger. Wer – wie Thomas Steinfeld in der FAZ – Delius Verrat an seiner „Generation“ vorwirft, kann nicht begreifen, daß die Substanz jener Jahre unheroisch war. Die Rituale der Widersetzlichkeit wurden von den eigenen Skrupeln weit mehr behindert als von der Staatsmacht. Heutiges Befremden darüber beweist, wie weit eine damals zaghaft initiierte Selbstbefreiung mittlerweile gediehen ist.

Ein Zeitdokument also? Nein. Nach der Fußballgeschichte die zweite Folge einer aus Rekonstruktion privater Wahrnehmung zusammengefügten Chronik. Spröder, kopflastiger und gebrochener vielleicht als die erste, aber nicht weniger wichtig, weil sie Nuancen hervorhebt, die in der historischen Rückschau geglättet wurden.

Friedrich Christian Delius: „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“. Erzählung. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997, 154 Seiten, 29,80 DM