Die große Stunde des Wolfgang Schäuble

Das Verhältnis zwischen Wolfgang Schäuble und Helmut Kohl schien zuletzt getrübt. Mit seiner Rede auf dem CDU-Parteitag in Leipzig zieht der Fraktionschef die 1.000 Delegierten in seinen Bann und huldigt Helmut Kohl  ■ Aus Leipzig Bettina Gaus

Vorne auf dem Podium sitzt ein Mann im Rollstuhl. Er spricht über Globalisierung, Umweltpolitik und Rentenreform. Kaum erhebt er die Stimme, fast unbewegt bleiben seine Gesichtszüge. Unten im Saal hören tausend Männer und Frauen konzentriert zu, lachen bei ironischen Randbemerkungen, applaudieren immer wieder spontan und heftig. Was Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem CDU-Parteitag in Leipzig nicht gelungen ist, das hat Wolfgang Schäuble geschafft: die Zuhörer mit trockenen Sachthemen in seinen Bann zu schlagen.

Schäubles Kollegen im Bundestag und die Journalisten haben sich an die rhetorische Begabung des CDU-Fraktionschefs gewöhnt. Er könne doch noch mehr, heißt es hinterher am Rande des Plenums. Nicht einmal frei gesprochen habe er, sondern nur vom Blatt abgelesen. Eine gute Rede, gewiß, aber doch keine Ansprache von historischem Format.

Darin lag ja gerade die Meisterleistung. Als inhaltlich blaß war die Rede des CDU-Vorsitzenden Kohl vom Vortag eingeschätzt worden. Damit war es Zeit, auf dem Parteitag endlich auch politische Schwerpunkte zu setzen. Wolfgang Schäuble ist dennoch der Versuchung nicht erlegen, sich als der Politiker zu präsentieren, der eben doch der bessere Kanzlerkandidat gewesen wäre. Als die Woge der Sympathie für ihn am höchsten war, da lenkte er das Rampenlicht von sich ab und hin zu Helmut Kohl. Europäische Einigung, Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion sei die europäische Antwort auf die Globalisierung: „Und für dieses Projekt steht ein Name: Helmut Kohl.“ Der herzliche Beifall des Plenums wurde zu jubelndem Applaus.

Die rund 1.000 Delegierten des CDU-Parteitages kommen aus der Basis der Partei. Die allermeisten hätten gar nicht mitbekommen, daß das Verhältnis zwischen Kohl und Schäuble getrübt sei und es zwischen beiden erhebliche Meinungsunterschiede gebe, glaubt ein Bundestagsabgeordneter. Vor diesem Hintergrund konnte Schäuble sich dann auch sparsame Kritik an jenen erlauben, die jede parteiinterne Kontroverse für Häresie halten: „Wir sollten das Nachdenken nicht verbieten wollen! Und wer ein Problem als Problem benennt, ohne schon eine perfekte Lösung zu haben, sollte von den Bedenkenträgern und Besitzstandsverteidigern nicht gleich des Hochverrats verdächtigt werden.“

Kohl hatte von der Vergangenheit gesprochen. Schäuble sprach von der Zukunft: „Wir müssen Globalisierung nicht immer nur als Bedrohung, wir müssen sie als Chance begreifen!“ Applaus. Bei diesem Thema wirkt Wolfgang Schäuble glaubwürdig und kraftvoll – als einziger Bundespolitiker von Format. Weder Oskar Lafontaine noch Gerhard Schröder und auch nicht Helmut Kohl gelingt es, das Stichwort Globalisierung anders als sorgenvoll zu erwähnen. Schäuble macht den Delegierten Mut zur Zukunft. Das kann er, weil die Gefahren der globalen Entwicklung sein Weltbild nicht bedrohen.

Die Furcht, daß die Globalisierung große Teile der Gesellschaft dauerhaft ins Abseits stellen, gar ins Elend stürzen könnte, treibt Schäuble nicht um. Auch er stellte gestern zwar fest: „Das Auseinanderbrechen unserer Gesellschaft in einen Teil, der immer reicher wird, und einen anderen, der in der modernen Welt Anschluß und Zukunft verliert, entspricht nicht unserem Leitbild von sozialer Gerechtigkeit.“

Aber er zog daraus dann den Schluß: „Deshalb wird Vermögensbildung und Vermögenspolitik noch wichtiger.“ Endlich Aktienpakete für die Obdachlosen?

Ach nein, an die hatte er wohl nicht gedacht. Mit denen hat Schäuble andere Pläne: „Arbeiten wir daran, daß künftig jedem arbeitsfähigen Empfänger von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine Arbeitsgelegenheit nachgewiesen werden kann, notfalls auch in Form eines öffentlichen Beschäftigungsangebots.“ So elegant lassen sich Überlegungen für eine allgemeine Dienstverpflichtung formulieren.

„Überlegen wir, wie die Verwerfungen zwischen sozialen Hilfen und niedrigen Arbeitseinkommen durch Kombinationen so aufgelöst werden können, daß auch geringer bezahlte Arbeit lohnend erscheint und angenommen wird“, fuhr der Fraktionschef fort.

Wolfgang Schäuble weiß, daß auf dem von ihm gewünschten Weg in die Zukunft manche draußen vor der Tür bleiben werden: „Mag sein, daß auf absehbare Zeit nicht mehr jeder einen traditionellen Vollzeitarbeitsplatz wird bekommen können.“ Helmut Kohl hatte einmal die Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000 versprochen, eine Zusage, an die er heute nicht gern erinnert wird. Bei Schäuble ist das Versprechen auf die Forderung geschrumpft, die Vermittlungsdauer der Arbeitsämter für angebotene Stellen zu halbieren.

Der Fraktionschef hat gestern viele Themen angesprochen. Zu internen Kontroversen wie der Festlegung des Kanzlers auf die Koalition mit den Liberalen aber hat er geschwiegen. Mit seiner Rede hat er all denen die Grundlage entzogen, die doch gerne noch einmal intern über die Führungsfrage gestritten hätten. Mehrfach hat Wolfgang Schäuble öffentlich versprochen, er werde Helmut Kohl „niemals bescheißen“. In Leipzig hat er dieses Versprechen eingelöst.