Variationen über Abschiede

■ Erlebte Vergangenheit, fragmentarische Erinnerung: Marion Titzes leise Erzählungen aus der Nachwendezeit: "Das Haus der Agave"

Das Haus stand dreißig Jahre an der Mauer, die Berlin teilte. Seit die Mauer fiel, zerstört es nach und nach der scharfe Ostwind. Feuchtigkeit nistet sich in den Wänden ein. Der letzte Bewohner des Hauses, W., litt an einer schweren Angstneurose, die mit dem Fall der Mauer erneut zum Ausbruch kam. Symbole, Metaphern natürlich. W.s Wahn war „eine Reise“, schreibt Marion Titze. „Wenn ich heute daran denke, hat das einen grotesken Aspekt, weil es ja für uns die einzige Form des Reisens war, was wir so nicht wahrnahmen, obwohl wir gerade das ziemlich genau wahrnahmen.“

Vier – ja – einzigartige Erzählungen bietet Titze in ihrem (nach „Unbekannter Verlust“) zweiten Buch auf. Die Eingangserzählung vom „Haus der Agave“ schildert den Bruch zwischen der Ich-Erzählerin und einem neurotisch schwer gestörten Menschen. Wozu das gut sein soll? Es geht Marion Titze, 1953 geboren und im ersten Leben Fernseh- und Literaturredakteurin, nie um die – ohnehin omnipräsente – Dekonstruktion von „Normalem“, sondern darum, was in einer bestimmten Situation mit oder ohne Worte kommuniziert wird – und welche Folgen das hat. Erlebte Vergangenheit, fragmentarische Erinnerung, Phantasie, weiße Flecken der Seele, dazu eine Differenz, von der man nicht wußte, daß sie existiert, eine Enttäuschung, deren Ausmaß man vergeblich zu zähmen sucht, eine Erwartung.

In „Das Haus der Agave“ haben W. und die Erzählerin anfangs einen Streit, doch in der Rückblende wird nicht der Verlust der Freundschaft, sondern dessen Zurechtrücken durch ordnendes Erinnern, die Untauglichkeit „des Einweisens ins Absolute“ verhandelt. „Die Lektion“ ist ein traumatischer Abschied – eine Lektorin verrät ihre Autorin –, und „Abschiede auch“ führt einen nie vollzogenen Abschied zu seinem Ende, so wie es geschieht, wenn man wider Willen jemandem aus der Vergangenheit begegnet. Im Glücksfall ist Lesen gefährlich.

Über dem Schreibtisch einer Freundin hängen zwei Fotos: Riesige Farne recken sich gegen die mit Reif überzogenen Fenster eines Wintergartens – die perfekte graphische Übersetzung von Titzes Stil. Ein anstandslos klares, kühles Beschreiben (nicht Behaupten) der Duplizität von Leben und Tod, das unerwartet und oft nur in einem Nebensatz ins Abstrakte ragt. Chinesische Taubenbäume beschreibt Titze, „die Blüten wie Nonnenhauben. Oder wie ganz feine Taschentücher, mit Hohlsaum und Monogramm. Wie der letzte Atemzug tuberkulöser Mätressen. Während draußen Revolution ist.“ Der Leser muß den Boden verlieren. Die Autorin sagt es selbst: Es ist ein „Überdruck von Bewußtsein“, eine knapp beherrschte Zerbrechlichkeit, was diese Variationen über Abschiede, auch von West nach Ost, so luzide macht.

Wortreicher und weicher, doch ebenso genau ist „Die Patin“. An der Oberfläche Familiengeschichte, Reiseimpression und Gesellschaftsstudie in einem, geht es auch hier um das, was den Menschen ausmacht, um gelingendes oder fehlschlagendes Bestehen auf Individualität.

Titzes „Patin“ ist „extravagant“, das heißt die DDR-Umstände klassifizieren sie so, denn sie läßt sich Kleider nach Maß nähen und kocht sich jeden Tag selbst ein gutes Essen, statt die Kollektivküche in Anspruch zu nehmen. In „Die Patin“ projiziert Titze Menschen, die Grundsätze annehmen – wie den Vater der Erzählerin, ein DDR-Offizier und „Geheimnisträger“ –, auf Grundsätze, die ohne Menschen geboren werden, damit letztere in erstere hineinschlüpfen können.

Die Aufgabe dieser Erzählerin ist Unterscheidung. „Die Geschichte wird für die Chronik und die Beichte für das Gewissen erzählt. Was suchte ich zu erzählen?“ fragt sie sich. Und woran liegt es, daß sich eine erzählerische Subtilität wie diese hier ins Leser-Ich frißt wie starker Frost, dabei jedoch nie empfindlich bleibt und ermüdet? Vielleicht an der Sisyphushaftigkeit, mit der Titze Schönheit, Vertrauen und Aggression wieder und wieder aufeinanderlegt und auseinandernimmt.

Das Biblische ihres ersten Buchs hat die Autorin aus Lichtenwalde bei Chemnitz nun zwar aufgegeben, nicht aber die Schmerztherapie im Selbstversuch – und beides ist gut so. In „Abschiede auch“ findet sich das Unterm- Strich der Geschichte, das ein „Verstummen gegenüber der Zeit ist“. „Die Zeit verging. Was geschah, war geringfügig.“ Viel zu wenige AutorInnen zwingen den Leser so zu sich selbst. Anke Westphal

Marion Titze: „Das Haus der Agave“. Erzählungen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1997, 131 Seiten, 26 DM