: Keine Kackawürstchen
■ Christoph Schlingensief macht mobiles Einsatztheater der Handgreiflichkeiten: 7 Tage Notruf für Deutschland ist die soziale Tat eines verkannten Moralisten
Fahr keine Kurven, hat seine Oma immer gesagt. So etwas prägt, und zwar mehr, als Oma sich vermutlich vorstellen konnte. „Meine Familie hat immer mit Angstbildern operiert, immer mit dem Schlimmsten gerechnet. Von daher bin ich gut im Überlegen, was alles schief gehen kann.“Ein katholisches Visionstalent, das Christoph Schlingensiefs Karriere begründete. Bereits mit zwölf Jahren drehte er auf Super-8 Wer tötet kommt ins Kitchen, zwei Jahre später bebilderte er seine Obsessionen unter dem Titel Das Totenhaus der Lady Florence, was irgendwie stringent zur Deutschlandtrilogie 100 Jahre Adolf Hitler / Das Deutsche Kettensägenmassaker / Terror 2000 führen sollte. Das war Anfang der Neunziger, aber das Mißverständnis saß schon tief: Lustig waren die Splatter Movies allesamt gemeint, „aber die Leute glauben so blöd eindimensional, daß, wer Filme macht, wo einer seine Eltern umbringt und ein anderer nur kotzt, hochgradig gestört sein muß“.
Von diesem Image will sich der Mülheimer jetzt endgültig lösen. Seit 15 Jahren wird er vom Feuilleton als Berufsrabauke gehandelt, daran hat auch seine 1993 beginnende Theaterarbeit nichts geändert, und er hat es satt: „Alle denken bei meinen Arbeiten: 'Der meint das sowieso nicht ernst.' Ich mache aber nie etwas aus Provokation heraus, sondern immer aus einem moralischen Aspekt.“Und damit das endlich begriffen wird, macht der letzte deutsche Moralist nun auch kein Theater mehr, sondern eröffnet eine Woche vor seinem 37. Geburtstag in Hamburg den „Prototyp einer Bahnhofsmission“.
Das hat selbst Intendant Frank Baumbauer irritiert, der Schlingensief für die Passion Impossible. 7 Tage Notruf für Deutschland ans Schauspielhaus lud. „Die meinten wohl, wir holen den Christoph aus Berlin von der Volksbühne und der macht jetzt sein Kackawürstchen hier. Aber die Verantwortung übernehme ich nicht mehr. Ich hab gesagt, ich weiß, daß Ihr flott aussehen wollt, aber Ihr könnt die Jeans im Schrank lassen.“Sein Plan war, entweder die Fassade vom Schauspielhaus abzureißen, die Stühle umzudrehen und den Blick auf den Bahnhof freizugeben oder das Stück nach draußen zu verlegen. Vermutlich aus Kostengründen hat man sich für letzteres entschieden.
Zwar wird die Premiere am Donnerstag im Schauspielhaus stattfinden – eine große Benefizgala soll es geben, mit viel Musik und Prominenten –, dann aber zieht die Veranstaltung auf die Straße. „Wir benennen das Elend und binden es in eine soziale Tat“, sagte Baumbauer am Montag vor der Presse und erklärte, ganz so als habe sein Haus das nicht seit Jahren versucht: „Das Theater stülpt sich nach außen und trifft auf die Realität.“
Ein Glücksfall war es, daß die Polizeiwache 11 in der Kirchenallee leersteht und für das Projekt genutzt werden darf; nicht nur aus strategischen Gründen, sondern auch, weil es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, daß die Fortsetzung von Schlingensiefs documenta-Projekt Mein Filz, mein Fett, mein Hase, das mit seiner Festnahme endete, nun auf einer Ex-Wache weitergeführt wird. Was genau passieren wird, weiß niemand. „Wir wollen helfen“, sagt der Mann mit den etwas inszeniert verwuschelten Haaren. Bis zum 22. Oktober gibt es täglich um 20 Uhr eine „Missionsversammlung“, unter Telefon 280 51 372 kann das Ensemble jedoch ab 12 Uhr zu Notfällen gerufen werden. Statt Kackawürstchen für die Kunst ein mobiles Einsatztheater der Handgreiflichkeiten. Wenn das mal nicht in die Hose geht. Christiane Kühl
Premiere: Donnerstag, 16. Oktober, 20 Uhr, Schauspielhaus
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