Er will alles von Freud

Das kann er kriegen, und viel Spaß dann auch: Einige Auszüge aus dem Tagebuch eines Hilfsantiquars  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Antiquariate sind toll. Überall stehen Bücher und wollen gelesen werden. Dem romantischen Klischee – verstaubte, geheimnisvolle, uralte Bücher, weise Männer mit komischen Bärten hinter dem Schreibtisch – entsprechen nur die wenigsten Antiquariate in Berlin. Auch bei uns hier in Kreuzberg gibt es vor allem aussortierte moderne Bücher. Wenn grad niemand kommt – und es gibt Tage, an denen tatsächlich nur fünf bis zehn Leute den Laden betreten –, schreibt man Tagebuch.

11.00 Laden aufmachen. Büchertische rausstellen. Sich wichtig hinter den Schreibtisch setzen. Zigarette rauchen.

11.07 Ein schönes, junges Mädchen kramt eine Weile halb unschlüssig in den Bücherkisten herum. Dann kommt sie herein. Sie will „Momo“ haben. Haben wir nicht. Eine halbe Stunde suche ich im Regal herum, in dem Wissen, daß wir momentan kein einziges Buch von Michael Ende haben. Und auch nicht haben werden. Das letzte Michael-Ende-Buch hatten wir für drei Mark verramscht. Wir sind nämlich sehr seriös. Die Kundin schaut traurig und geht dann wieder.

11.40 Druck auf der Blase. Sollte weniger Kaffee trinken. Und auch weniger rauchen. Vor allem aber: weniger Kaffee trinken. Die Kneipe nebenan hat ein Klo. Macht allerdings erst um 15 Uhr auf. Da geht man dann pissen und holt sich noch einen Kaffee.

Zwei kleine Mädchen kommen und wollen ein Stück Pappe haben. Da soll ich draufschreiben: „Maria. Flüchtling aus Bosnien. Habe fünf Brüder. Bitte eine Spende. Danke!“ Wird gemacht. Kriegt ein paar Groschen. Heut sind wir ganz besonders großzügig.

11.53 Erste Einnahmen. Ramschbuch. „Ich bin doch kein Tor“. Sepp Maiers Autobiographie. 2 DM. Hätte ich eigentlich auch gern.

12.54 Eine Stunde lang: „Nichts. Niemand. Nie“, wie Arno Schmidt sagen würde. Leute gehen auf dem Bürgersteig vorbei und weigern sich, zu Kunden zu werden. Kunden sehen auffallend oft sehr nett aus. Einige haben Bärte, andere nicht. Politik ist bei uns kein Fremdwort. Marx wird in Kreuzberg auch häufig verlangt. Manche suchen nach ausgefallenen Bänden der schönen MEW-Ausgabe. Einer Lebenspartnerschaft aus Moabit fehlt nur noch ein Anmerkungsband. Wichtigen Gedanken notieren: Marx ist nicht tot! Ich muß dringend pissen!

13.18 Fahrig wirkender Kunde. Will alles von Freud. Kann er kriegen. Viel Spaß dann auch.

14.49 Erleichterung. Gleich macht die Kneipe nebenan auf. Die drei Pissoirs sind alle unterschiedlich hoch. Interessant. Heut hängt auch ein riesiges Transparent über der Straße. Von einer Wohnung im vierten Stock zur nächsten ist es gespannt. Ein Auge ist auf dem Transparent. Das Auge ist geschlossen. Auf dem Augenlid steht „Ende“. Spreche mit der Thekenfrau darüber. Was das wohl wieder bedeutet? Weiß ich auch nicht. Danach reden wir über Mao. Weil der zum Ersten Mai immer über der O-Straße hängt und innerhalb von einer Stunde von den Bullen dann wieder entfernt wird. Früher hätten die zwei Stunden dafür gebraucht, weiß die nette Frau hinter dem Tresen. Bei dem Auge handele es sich um eine Werbemaßnahme für eine Ausstellung, klärt mich später jemand auf.

15.19 Eine Michaela ruft an. Ob wir von Wilson das Buch „Schrödingers Katze“ haben. Bin völlig begeistert, daß ich es kenne und daß wir es auch dahaben. Sie fragt lange, wo denn das Antiquariat sei. Sie sei zwar schon mal dagewesen, doch damals sei sie „völlig betrunken“ gewesen und könne sich jetzt nicht mehr genau erinnern. Ich solle ihr das Buch zurücklegen. Sie kam nie, um es abzuholen. So was macht traurig.

15.35 Die Ereignisse überschlagen sich: Ein Mann kommt mit diversen neuwertigen Büchern. Will sie verkaufen. Hat er bestimmt gegenüber geklaut. Werden nicht gekauft. Ob ich Interesse an einem Fahrrad hätte? Ein Langhaariger um die Vierzig fragt, ob wir Rudolf Gelpke hätten, „Vom Rausch im Okzident und Orient“. Haben wir leider nicht. Ist trotzdem ein tolles Buch. Reden 23 Minuten über den Rausch im Orient und Okzident. Zwischendurch kauft eine nachdenklich und geheimnisvoll aussehende Frau „Stigma – Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“.

16.15 Die Sonne scheint. Warum nicht immer so? Ärgere mich wieder eine halbe Stunde über das „lustige“ Plakat, das leicht vergilbt in einer Ecke hängt: „Bücherklau ist konterrevolutionär“. Solche Sachen findet der „Chef“ „toll“ resp. „lustig“. Das sei doch „lebendige Geschichte“. Der Chef mag es nicht so gern, wenn man ihn „Chef“ nennt, ist aber eigentlich ein guter Chef. Wenn man's mal so devot formulieren möchte.

16.46 Eine Frau trägt eine Bluse und wirkt etwas hastig. Ob wir „Nur Fliegen ist schöner“ hätten. „Sie wisssen schon, was ich meine.“ Von wem das Buch ist, weiß sie leider nicht. Vielleicht heißt das Buch auch anders.

17.07 Ein unscheinbar wirkender Mann mit Brille und lila Jeans sucht nach was „Ausgefallenem“. Sozusagen Satanistischem. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Nur aus kulturanthropologischem Interesse.“ Schließlich kauft er den Pentateuch.

Religion steht bei uns unter „Esoterik“; Frauen stehen bei Männern. Profil zeigen eben. Das finden manche nicht so gut.

17.35 Jemand sucht ein spannendes dickes Buch, nicht zu flach. Jemand sucht ein spannendes kurzes Buch, nicht zu anstrengend. Jemand hätte gern ein Kochbuch. Ein anderer will „was Naturwissenschaftliches“. „Wo geht's denn hier zur AOK?“

18.40 Zwei Leute stöbern noch im Laden. Soll man jetzt dichtmachen? Nö.

19.00 Die zwei verlassen den Laden, ohne was gekauft zu haben. Unverschämtheit! Büchertische wieder reinholen. 80 Mark verdient. Nachher: Eis essen. Bin komisch traurig. Vielleicht auch wegen Herbst.