Abschied vom Banditen

■ "Eskiya" von Yavuz Turgul ist eine Parabel auf die türkische Gesellschaft und ein Feuerwerk am Ende des türkischen Filmschlafs

Ein kleines Filmwunder. Seit seinem Start im letztem November hat „Eșkiya“ in der Türkei die Rekordzahl von 2,5 Millionen Menschen in die Kinos gezogen. Damit hat der Film nicht nur die sicheren Kassenfüller aus Hollywood auf die hinteren Plätze verwiesen, sondern auch, so glauben viele Beobachter, eine neue Zeitrechnung des türkischen Kinos eingeleitet. Zumindest aber hat „Eșkiya“ schon jetzt eine gewisse Euphorie ausgelöst: Prominente Zeitungskolumnisten debattierten wochenlang über den Film, und das Kinomagazin Sinema widmete dem Ereignis ein Sonderheft.

Warum das? „Eșkiya“ hat unter Beweis gestellt, woran weitverbreitete Zweifel bestanden, nämlich daß eine türkische Produktion qualitativ, vor allem aber kommerziell mit der ausländischen Konkurrenz mitzuhalten vermag. Dabei ist der Erfolg des Films nicht nur auf seine gelungene Kombination von Unterhaltung und Anspruch zurückzuführen, sondern auch das Ergebnis einer für einen türkischen Film bisher beispiellosen Promotionkampagne – mit großem Werbeetat, Soundtrack- CD und allem Drum und Dran, für türkische Produktionen keine Selbstverständlichkeit.

Doch das allein erklärt nicht das ganze Phänomen. Der Film hat auch den emotionalen Nerv des Publikums getroffen mit seiner Geschichte vom ehrlichen Banditen Baran, der, nach 35 Jahren Haft aus dem Gefängnis kommend, in eine ihm fremde Welt entlassen wird. Sein Heimatdorf ist verschwunden, überschwemmt von einem mächtigen Stausee. Lediglich eine alte Frau, eine Wahrsagerin, trifft er bei seiner Rückkehr an. Auf der Suche nach dem Mann, der ihn einst an die Gendarmen verriet, macht der betagte Bandit sich auf die lange Reise nach Istanbul, dem fernen Moloch. Eine Reise, von der er nicht zurückkehren wird. Im Zug begegnet er dem Kleinganoven Cumali, der als Drogenkurier unterwegs ist und dem er später mit einem lebenswichtigen Gefallen aus der Patsche hilft – natürlich der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Während jedoch die Figur des Baran ausgesprochen märchenhaft gezeichnet ist, unzeitgemäß in Kleidung und Gebaren, entspricht der junge Cumali jener Sorte aufbrausender junger Männer in Lederjacke, die in Cafés herumhängen und krumme Dinger drehen – er wäre gerne ein richtiger Gangster, um Geld und Anerkennung zu bekommen.

„Wenn du Geld hast, ist jeder vor dir ein Hund – das ist Cumalis Glaubensbekenntnis“, beschreibt der Theatermime Ugur Yücel den von ihm mit viel Leben gefüllten Charakter. „Er ist in Reparaturwerkstätten und der Gosse von Beyoglu großgeworden, er spricht den Jargon der Straße. Cumali ist ein Produkt der Ära nach Özal, mit ihrer schnellen Lebensweise und ihrer Arabeskkultur: heißblütig und willig, sich für jemanden zu opfern, aber auch, andere umzubringen“, so Yücel, der nach zehnjähriger Abstinenz sein Comeback auf der Leinwand feiert.

Die Figur des Baran hingegen wird von Șener Șen verkörpert – in der Türkei ein Star, der vor allem durch Komödien berühmt wurde. Baran, der Bandit aus den Bergen, ist in der engen und übervölkerten Großstadt völlig orientierungslos. Dennoch findet er den Verräter, den er sucht – im Fernsehen. Berfo, der einstige Freund, der ihm dann Geliebte und Gold stahl, hat sich zu einem der reichsten Männer der Türkei entwickelt.

Dieser Berfo personifiziert den Typus der zu unermeßlichem Reichtum gekommenen Profiteure des Wirtschaftsaufschwungs in den Achtzigern. „Gibt es noch Räuber in den Bergen?“ fragt in einer Szene spöttisch der Mafiaboß Demircan den alten Eșkiya. „Die sind doch alle längst in der Stadt.“ Natürlich ist der Film eine einzige Reminiszenz an den Topos vom guten Banditen, der in der türkischen Volksmythologie und Literatur, zum Bespiel in den Romanen von Yașar Kemal, für den aufrichtigen Rebellen steht. „Dieser Bandit ist ein Mensch, der gegen den Aga und das feudale System opponiert hat.“ Yavuz Turgul, der Regisseur, spinnt das traditionelle Thema jedoch weiter und behandelt es ohne den sonst üblichen andächtigen Ernst, sondern mit liebevoller Ironie. In seiner Erzählweise finden sich gleichzeitig vielerlei Elemente des Märchenhaften. Man darf das auch magischen Realismus nennen.

„Eșkiya“ will als Parabel auf heutige Verhältnisse gelesen werden. Treffend porträtiert der Film die Verhältnisse in der heutigen Türkei, etwa die Atmosphäre der hinteren Gassen der Altstadt Istanbuls, in denen die Halbstarken und Prostituierten auf der Straße herumhängen, den Drogenhandel in den Diskotheken, in denen sich die gelangweilte Mittelstandsjugend vergnügt, die Macht der Mafia, der Polizei und der Wirtschaftsbosse sowie das Klima des Mißtrauens. Dieser unwirklich-undurchdringliche Untergrund der Stadt korrespondiert mit jenem alles überlagernden Geflecht aus Korruption, Betrug und mafiosem Verbrechen. Wieviel dieses Gesellschaftsbild mit der türkischen Realität zu tun hat, wurde erst im vergangenen Dezember, pünktlich zum Filmstart, durch die Affäre um den Autounfall bei Susurluk mehr als offensichtlich.

Einen direkten Bezug zur türkischen Politik weist Șener Șen allerdings weit von sich: „Der Baran hat verschiedene starke Gefühle, und eines davon ist das Gefühl einer tiefen Machtlosigkeit, konfrontiert mit einer durch und durch korrupten Gesellschaft. Aber das ist ein zeitloses Thema. Es ist ein Zufall, daß der Film möglicherweise eine gewisse gesellschaftliche Befindlichkeit getroffen hat.“

Ein türkischer Fernsehsender entblödete sich nicht, den Film sogar der verschlüsselten Propaganda zu verdächtigen, zumal er Parallelen zwischen der Hauptfigur, dem Kurden Baran, und einem verstorbenen PKK-Anführer zu erkennen glaubte. Von anderer Seite wiederum wurde ihm vorgeworfen, die kurdische Wirklichkeit nicht wirklichkeitsgetreu widerzuspiegeln. Das mag richtig sein, wenn auch auf den Bürgerkrieg am anderen Ende des Landes mehr als einmal angespielt wird – in den Fernsehnachrichten, beim Verhör bei der Polizei oder in der Anfangsszene: das überschwemmte Dorf, aus dem Baran stammt, als Metapher für die Unbewohnbarkeit der Region. Schließlich die Landflucht, die zur Bevölkerungsexplosion in den Großstädten führte, wo sich heute mehr als die Hälfte aller Einwohner der Türkei drängen, und die Istanbul zu jener drückend engen, überbevölkerten Zehn-Millionen-Stadt anwachsen ließ, in welcher nicht nur der Bandit Baran kaum zu atmen vermag.

Was „Eșkiya“ zu der rundum gelungenen, romantischen Räuberballade macht, die sie ist, sind die vielen Ebenen der Erzählung, die poetischen Dialoge, die darstellerische Brillanz der Schauspieler sowie die Liebe zum Detail, die sich besonders in der Gestaltung der Nebenrollen zeigt. Unter den vielen hervorragend besetzten Nebenprotagonisten ragen vor allem die beiden ergrauten Senioren heraus, ein arbeitsloser Schauspieler und ein russischer Emigrant, die ihre alten Tage verarmt und unter ihrer Würde in dem heruntergekommenen Hotel namens Cumhuriyet (Republik) beschließen müssen – dort, wo sich zum großen Teil die Filmhandlung abspielt. Die Frauenfiguren, insbesondere Barans Jugendliebe Keje, fallen dagegen merklich blasser aus.

Mit Filmen wie „Istanbul unter meinen Flügeln“ von Mustafa Altioklar, der den Disput zwischen Aufklärung und religiöser Autorität in ein historisches Setting verlegte, und „Isiklar Sönmesin“ von Reis Çelik, der sich vorsichtig der Kurdenfrage näherte, ist „Eșkiya“ nun der bisher erfolgreichste Versuch einer neuen Generation türkischer Filmemacher, ernste Anliegen mit unterhaltsamen Mitteln zu transportieren. Und eine eigene, zeitgemäße Filmsprache zu finden, denn vom politischen Autorenkino eines Yilmaz Güney ist Regisseur Yavuz Turgul so weit entfernt wie Helmut Dietl von Rainer Werner Fassbinder. Aber ob das gleich eine Zeitenwende einleitet? Zum Anschluß an jene goldene Ära in den sechziger Jahren, als die Türkei mit über 200 Filmen im Jahr zu den größten Filmproduzenten der Welt zählte, dazu fehlt noch ein bißchen. Vorbote eines neuerlichen Booms ist „Eșkiya“ noch nicht. Aber immerhin ein hübsches Feuerwerk am Ende einer langen Nacht. Daniel Bax

„Eșkiya“. Regie: Yavuz Turgul. Mit Șener Șen, Ugur Yüzel u.a. Türkei 1997, 132 Minuten