Eine psychisch zerstörte Gesellschaft

Die Palästinenser in Gaza sind von der israelischen Besatzung kollektiv traumatisiert. Das produziert neue Gewalt und Brutalität unter Arafats Autonomiebehörde: Pessimistische Bilanz einer Fachtagung  ■ Aus Gaza Georg Baltissen

Wenn Arafat auf dem Bildschirm erscheint, springen meine Kinder auf und schlagen auf das Bild ein“, sagt Fathi Abud. Die Kinder sind empört, daß ihr Vater, ein Sozialarbeiter in Gaza, von der palästinensischen Autonomiebehörde festgenommen wurde, weil er angeblich einer islamistischen Untergrundorganisation angehöre. „Ich hatte Glück“, sagt er. „Mir geschah nichts, und ich wurde nach wenigen Tagen wieder freigelassen.“

Schon während der Intifada war der ehemalige Lehrer aus demselben Grund von den israelischen Besatzungssoldaten festgenommen und schwer gefoltert worden. Die Soldaten brachen ihm einen Arm. Wochenlang wurde Fathi Abud im sogenannten Kühlschrank eingesperrt, bei Minustemperaturen und dünner Bekleidung, die Hände auf den Rücken gebunden und einen Sack über dem Kopf.

Heute betreut er ehemalige palästinensische Häftlinge, darunter auch solche, die in palästinensischen Gefängnissen gefoltert wurden. Dreimal in der Woche besucht Fathi ein ehemaliges Mitglied von Arafats Leibwache „Power 17“. Der junge Mann traut sich nicht mehr aus dem Haus: Unter dem Verdacht, Mitglied des „Jihad Islami“ zu sein, sei er aus heiterem Himmel festgenommen worden, erzählt Fathi. Fünf Tage lang wurde er schwer gefoltert. Die Geheimdienstleute hätten ihm die Beine auseinandergerissen und in die Geschlechtsorgane getreten. Außerdem seien ihm einige Wirbel gebrochen worden. Nach fünf Tagen sei er freigelassen worden, weil sich die anonyme Beschuldigung als falsch herausgestellt habe.

Manche Gefangene, so Fathi, werden in der Haft verrückt. Er nennt das Beispiel von Mahmud, der sechzehn Jahre in israelischer Haft verbrachte, davon zwei Jahre in absoluter Isolation, ohne jede akustischen Reize. Er wähne sich noch immer im Gefängnis, verlasse das Haus nie und erkläre stets: „Ich bin in Zelle 223.“

Die Auswirkungen von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen auf die menschliche Gesundheit waren das Thema einer dreitägigen internationalen Konferenz in Gaza, die gestern zu Ende ging. „Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft“, sagt Iyad Sarraj, Direktor einer palästinensischen Menschenrechtsorganisation im Gaza- Streifen und einer der Organisatoren der Konferenz. Mehr als 100.000 Palästinenser seien über die Jahre in israelischen Gefängnissen inhaftiert worden, 3.500 befänden sich immer noch in Haft. „Die palästinensische Gesellschaft insgesamt ist Opfer des Konflikts und leidet weiterhin“, sagt Sarraj. Im Gaza-Streifen sei zwar der äußere Feind, Israel, größtenteils verschwunden – aber „wir sind hier regelrecht schockiert über die Menschenrechtsverletzungen durch unsere Behörden“. Frustration, Armut und Verzweiflung produzierten Gewalt, die sich jetzt gegen die eigene Gemeinschaft richte. „Die Gewalt in der Familie nimmt zu, gegen Frauen und Kinder, die Selbstmordrate steigt.“ Wer Opfer von Gewalt geworden sei, suche sich häufig selbst ein neues Opfer, an dem er seine Aggressionen auslassen könne – dies gelte auch für viele Mitglieder der palästinensischen Sicherheitskräfte.

Raji Sourani, palästinensischer Rechtsanwalt, malt ein ähnlich düsteres Bild. „Es war nie so schlimm wie in den vergangenen vier Jahren“, sagt er. „Es gibt keine Menschenrechte, weder im sozialen noch im individuellen Sinn.“ Sourani macht sowohl Israel als auch die Autonomiebehörde dafür verantwortlich. So werde Palästinensern, die wegen einer Krebserkrankung in einem israelischen Krankenhaus behandelt werden müßten, von Israel die Einreise verweigert. Andererseits sei einer seiner Mandanten, Professor Ahmed Subah, seit dreieinhalb Monaten in Gaza inhaftiert, ohne daß bislang auch nur ein einziger Anklagepunkt vorgebracht worden sei. Mutmaßungen zufolge wurde der Professor verhaftet, weil er seinen Studenten in einer Examensarbeit kritische Fragen zur Korruption in der Autonomiebehörde und zum islamischen Moralkodex vorgelegt hatte. „45 Tage mußte ich warten, ehe ich meinen Mandanten zum ersten Mal besuchen konnte“, so Sourani. Der Oberste Palästinensische Gerichtshof habe sich erst in der vergangenen Woche für den Fall als nicht zuständig erklärt, weil es um „Sicherheitsbelange“ gehe. „Die meisten Menschen im Gaza- Streifen leben in dem Gefühl, daß sie fast nichts mehr zu verlieren haben“, meint der Anwalt.

Ausländische Experten wie die Niederländerin Anja Meulenbelt erklären am Beispiel Südafrikas oder Ex-Jugoslawiens, daß interne Gewalt nach Beendigung eines „äußeren“ Konflikts nicht ab-, sondern zunehme. Der Mißbrauch von Frauen und Kindern steige ebenso wie die allgemeine Kriminalitätsrate. Da sei therapeutische Hilfe notwendig.

Sozialarbeiter Fathi Abud übt mit ehemaligen Gefangenen Desensibilisierung und Entspannung ein. „Sie müssen die Traumata noch einmal erleben. Sie müssen sich beunruhigende und angenehme Momente ins Bewußtsein rufen“, sagt er. Um die Gewalt in den Familien zu reduzieren, führt Fathi auch Familienberatungen und Spieltherapien durch. „Die Eltern dürfen ihre Kinder nicht schlagen“, meint er. „Sonst schlagen die ihre kleinen Geschwister.“