Winterhude sucht seine Identität

■ Autolawine und Pöseldorfisierung stören die stürmische Entwicklung der multiplen Stadtteilpersönlichkeit Winterhude Von Florian Marten

Winterhude? Wo und was bitteschön ist Winterhude: Villenachse an der Alster? Pendlerdurchlauferhitzer? Puppenstube für gar nicht so grüne Witwen? Scientologen-Eldorado? Traditionsreiches Gründerjahreviertel? In-Stadtteil für neue Mittelschichten?

Das noch Ende des 18. Jahrhunderts kaum 200 Seelen zählende Siebenhufendorf zwischen Uhlenhorst und Alsterdorf, Stadtpark und Alsterkanal durchlebt heute, in den letzten Jahren des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung, eine heftige Identitätskrise. Gewitzte Psychotrendsetter haben die Diagnose längst parat: Winterhude hat eine multiple Stadtteilpersönlichkeit.

MarketingstrategInnen drücken sich da freundlicher aus: Ein traditionsreicher Stadtteil mit vielen Gesichtern durchlebt einen stürmischen Aufwärtstrend. Mag ja sein. Aber was bedeutet das? In die Grundschule Alsterdorfer Straße gehen wenige Türkenkinder, aber viele Sprößlinge alleinerziehender Mütter. Im Stadtparkgebiet hat sich eine Bande jugendlicher Einbrecher etabliert, aber die weißen Holzstühle dort überdauern den Sommer immer noch unangekettet. Die Seuche der Immobilienspekulation – Gerüchte bringen hier immer wieder die Scientologen ins Spiel – vernichtet kleine Handwerks- und Einzelhandelsgeschäfte, hat den Flair von Grünhöker, Juwelier, Lotto-und-Toto-Schreibwaren, Frisiersalon und Damenmiederwaren aber noch nicht ganz auszurotten vermocht.

Im Kreis der Gründerjahrestadtteile rings um die Hamburger City nimmt Winterhude eine eigentümliche Zwitterstellung ein. Das ist zutiefst unhamburgisch. Diese Stadt liebt aufgeräumte Verhältnisse: Kaum eine andere europäische Metropole hat ihre Schichten und Schichtchen so fein säuberlich sortiert. Und dabei sogar radikale Veränderungsprozesse quartiersweise exekutiert: Der Vernichtung der Juden in Rotherbaum und Pöseldorf folgten deutsche Oberschicht und Boutiquenwelle. Arbeitseinwanderer, Jugendliche und Studenten durften die Rentnerstadtteile Ottensen, Schanze und Karoline aufmischen, Eppendorfs Jugendstiletagen durchleiden die Rückkehr urbanitätsgeiler Dinkies aus den Einfamilienhauswüsteneien am Stadtrand – aber Winterhude?

Stadtteilkonjunkturen, anderswo heiß erlebt und hamburgweit diskutiert, sind hier von kaleidoskopartiger Widersprüchlichkeit. Natürlich, die seit bald 30 Jahren prophezeite Pöseldorfisierung und Eppendorfisierung schwappte mit dem Ende der 80er Jahre massiv über die Hudtwalckerbrücke. Gepflegte Edelboutiquen sind freilich die Ausnahme.

Abschreibungsruinen und Ehefraubeschäftigungslädchen sorgen bei Maklern dank kurzer Lebensdauer für helles Entzücken, bei den Anwohnern aber für Ärger über den Verlust von Einkaufsmöglichkeiten und hemmungsloses Kopfschütteln, wenn der Blick über ein wieder mal frisch dekoriertes Schaufenster mit den absurdesten Artikelsortiments und -kombinationen schweift.

Natürlich, auch Wohnungsumwandlung, Mietpreisexplosionen und eine abenteuerliche Preisentwicklung bei Altbau-Eigentumswohnungen sind im südlichsten Hamburger Norden nicht unbekannt – doch verläuft der Prozeß der „Gentrifizierung“, wie Soziologen es auszudrücken belieben, hier langsamer und längst nicht so flächendeckend radikal wie anderswo in Hamburg. Kurz: Kaum ein Trend, dem Winterhude nicht mit einem Gegentrend begegnet.

Winterhude hat von allem etwas: Ein bißchen Armut, ein bißchen Ausländer, ein bißchen Szene, ein bißchen Tradition, durchaus nicht wenige Sozialwohnungen, viel zu viel Verkehr, jede Menge Grün, viele Villen, einen funktionstüchtigen Bürgerverein, dribbelnde Ghanaer im Stadtpark, Jugendliche, die dem Hockey verfallen sind – und jede Menge aufstrebender, neuer deutscher Mittelschichtler, die sich angesichts der vergleichsweise homöopathischen Dosierungen von Gewalt, Fremdheit und Stadtzerstörungen in diesem multiplen Quartier ausgesprochen wohlfühlen.

Mit viel Geld und großzügiger Spekulantenbetreuung hat sich vor einigen Jahren auch die banausige Hamburger Stadtplanung an die Aufwertung Winterhudes gewagt und viel Klinker auf den Traum vom gehobenen Angestelltenstadtteil verschwendet: Das traditionsreiche Stadtteilzentrum Winterhuder Fährhaus wurde durch eines der unvermeidlichen Stahl-Glas-Getüme ersetzt und darf im Schatten ähnlich gestalteter komfortabler Angestelltensilos nun als „Winterhuder Komödie“ die Softversion der neuen SPD-Hardcore-Kultur á la Cats oder Opernphantom repräsentieren. Das große Freibad am Lattenkamp wurde dafür geschlossen – schließlich muß die Stadt sparen.

Ähnlich genial engagierte sich der städtische Hochbau auch am „Winterhuder Marktplatz“: Die Autoschneise – mit ihren 65.000 Fahrzeugen täglich ein innerstädtischer Alptraum – bekam eine autofreie Platzhalbinsel spendiert, auf der sich neben einem Café-Kiosk nun sogar ein Bio- und ein Normalo-Wochenmarkt tummeln. Und die anschließende Mini-Passage, Fußgängern durch Autos und feindliche Ampelkonstruktionen weit entrückt, überlebt nur dank Aldi und Arztpraxen.

Die Stadtplanung hat jedoch den eigentümlichen Flair dieses Mischstadtteils, der eben Kampnagel und Komödie, Alstervilla und Sozialwohnung, Stadtpark und Autoschneise, Goldbekhaus und Bürgerverein, traditionelle Betulichkeit und absurde Schickimickisierung gleichermaßen beherbergt, nicht ganz zerstören können. Dennoch sind die Chancen, die sich durch den Rückzug des Winterhude umlagernden innerstädtischen Industriegürtels ergeben, bis auf Kampnagel (und dort nur halbherzig), nicht richtig genutzt worden.

Dabei hätte Winterhude, begnadet auch durch seine günstige Lage zwischen Alster und Stadtpark, ein Vorbild für den menschlich dimensionierten Fortschritt in der Stadtentwicklung darstellen können. Immerhin hat kaum ein anderer Stadtteil den Strukturwandel der vergangenen Jahre so souverän gemeistert.

Doch, ähnlich wie Rotherbaum, Eimsbüttel, St. Pauli und Teile Eppendorfs ist Winterhude Opfer jener städtischen Verkehrspolitik, die dem Autopendeln in der und durch die Stadt den absoluten Vorrang vor städtischer Lebensqualität gibt. Pendlerflut und Laster-Welle steigen ständig. Die Vielfalt Winterhudes als – wenn auch unhamburgischen - Reichtum zu empfinden – ist unmöglich, wenn hunderttau-sende Autos den Stadtteilraum beherrschen.

Immerhin: In der properen Sierichstraße, benannt nach dem Großspekulanten Adolph Sierich, der einst die nassen Wiesen zwischen Uhlenhorst und dem Dorf Winterhude durch Parzellierung und Straßendammbau in pures Gold verwandelte, regt sich jetzt erster Unmut. Eine neue Bürgerinitiative will sich für die Einführung von Stadtbahn und Fahrradstreifen sowie das Ende der Einbahnstraßenregelung einsetzen: Der Weg zur Identität, für multiple Stadtteilpersönlichkeiten besonders schwer, führt mitten durch den Verkehrssumpf. Winterhude – aber hallo!