Die Namen derer, die da gehen

■ Ballett-Tage: Wild-strenges Tanztheater aus Taiwan begeisterte in der Oper

„Da war ja ganz schön viel so Sexuelles“, sagt die Dame im roten Ballkleid in der Pause. „Ja“, sagt ihre Begleiterin, „aber wieder mal so aggressiv!“ Das Sexuelle, das sie meinten, war der archaische Tanz der 25 Bewegungsakrobaten des Cloud Gate Dance Theatre aus Taiwan, die im Rahmen der Ballett-Tage für zwei Vorstellungen in der Oper gastierten.

Alles war hier anders – und seltsam. Die Tänzer atmen laut und rhythmisch, hörbar noch in der letzten Reihe. Ihre Bewegungen sind wild-akrobatisch oder streng-geometrisch, hingegeben an die jeweiligen Zeremonien, die sie mit unglaublicher Geduld ausführen. Möchsgesänge (mit Oberton-Singen!), javanische Gamelans und Flöten begleiten die Nine Songs, die alten Gesänge über die entschwindenden Götter.

Eine rote Göttin reinigt sich im mit Wasser gefüllten Lotus-Brunnen, läßt sich vom Ensemble zu einem Fruchbarkeitstanz aufpeitschen und vom gelb maskierten Gott begatten. Mit langer Schleppe windet sich die weiße Frühlingsgöttin mit ihren Gespielinnen, bis sie abgelöst wird vom maskierten Herbstgott. Sein Mund steht am Ende offen, der Mond wird weiß, die Nacht tiefschwarz, die Götter haben keinen Kontakt mehr.

Ein Samurai hebt an zum Schwert-Tanz, die japanische Herrschaft bricht über das Gefüge herein. Das Sprechen löst das Singen ab, zum ersten Mal an diesem Abend. Sprache ist zum Nennen da, Wort für Wort, auf taiwanisch. Menschen schreiten in langen Bahnen über die Bühne, ihre Köpfe stecken in Körben, die Hände sind ihnen gebunden. Allmählich verstehen wir: Die Sprache nennt die Namen derer, die da gehen. Die da gehen, sind tot. Es sind die von den japanischen Besetzern zum Tode verurteilten Taiwaner, die 1945 mit Körben auf dem Kopf zur Hinrichtung geführt wurden. Es sind später auch die um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Inselbewohner, die im März 1947 von den Festlandchinesen massakriert wurden – laute Kriegsgeräusche fegen die Ensembletänzer in Gruppen zusammen und reißen sie wieder auseinander, ein Heer von Toten, die wiederauferstehen, nur um wieder zu fallen.

Die Menschen kommen herbei, tragen Lichter herein, mit denen sie die Toten umstellen. Für jeden Toten glüht ein Licht: Lichter, Wärme, menschliches Leben. Die Toten verschwinden von der Bühne, ihre Lichter werden immer mehr. Die Zuschauer weinen, wollen nach Hause. Es ist ganz still. Es wird ein Meer von Lichtern. Das Stück hört nicht mehr auf. Im Hintergrund fällt der Vorhang. Darauf projiziert: Lichter bis zum Horizont, so viele wie Sterne am nachtschwarzen Himmel.

Gabriele Wittmann