Die Sätze, der Raum, die Fremdheit

■ Bei dem Festival „Junge Hunde“ lief eine Performance nach Texten des Autisten Birger Sellin

Vor drei Jahren konnte man sie zum ersten Mal lesen, die seltsamen, anrührenden, großartigen und hochkünstlerischen Sätze des Autisten Birger Sellin. Nie hatte er ein Wort gesprochen, doch dann begann er plötzlich, mit Unterstützung seiner Mutter in eine Computertastatur Buchstabenfolgen zu tippen, die sich zu Texten von hoher Selbstreflexivität und skurriler Schönheit fügten. Später konnte man hören, es sei alles nur ein Schwindel gewesen, die eigentliche Autorin sei die Mutter, aber bewiesen wurden diese Vorwürfe nie. Und selbst wenn sie stimmen sollten: Die Sätze bleiben. Von „essigsauren irrsinnsbefehlen“ ist in ihnen die Rede, von einer „komischen inneren eiternden zuständigen kommandozentrale“, von „eisernen herzen“. In funkelnden Formulierungen erzählt in ihnen ein Ich von sich und von der Mauer, die es von der sogenannten Normalwelt trennt.

Am Donnerstag war nun im Rahmen des „Junge Hunde“-Festivals auf Kampnagel ohnemich keinniemand – neuronales Netzwerk zu sehen, eine Performance der jungen Hamburger Theatermacher Torsten Beyer und Christian Wiehle nach Texten von Birger Sellin. Aufgelöste Formen, fremde Verknüpfungen, nicht zu vereinheitlichende, disparat bleibende Einzelheiten – die textuellen Strukturen von Sellins Texten finden sich in den theatralen Strukturen der Aufführung wieder. Doch, seltsam, während man aus Sellins Sätzen die Fremdheit förmlich mit den Händen greifen kann, erscheint einem die Formensprache der Aufführung allzu bekannt. Torsten Beyer und Christian Wiehle wollten die Sätze in den Raum, die Körperlichkeit und den Vollzug eines von allen Formen- und Sinnzwängen befreiten Mediums Theater übersetzen, es ist ihnen nicht gelungen.

Zumindest zweierlei wollten sich Beyer und Wiehle nicht nachsagen lassen. Erstens daß sie nicht auf dem gegenwärtigen Stand der technischen Reproduzierbarkeit seien. So ist das sehr löchrige Spiel der zwei Akteurinnen und des einen Akteurs eingerahmt von Klang- und Videowiedergaben, von Geräuschmodulierungen und Kameraeffekten. Und einige Zeit lang filmen die Spieler die Zuschauer. Das alles ist ehrlich gesagt so neu nicht. Manchmal hatte man allenfalls eine Ahnung, wie ein Theater aussehen könnte, das selbst autistisch geworden ist.

Zweitens wollten sich Beyer und Wiehle wohl von keiner diskursiven Richtung den Vorwurf gefallen lassen, es mit Subjektdezentrierung nicht ernst genug gemeint zu haben. Birger Sellin fällt dabei hinten über. Er, dieser Eindruck bleibt im Gedächtnis, war hier nur der Anlaß, in dem sich der Wille zu einem rationalitäts-, subjektivitäts- und einheitskritischen Diskurs spiegelt. Doch präsent war beides nicht, weder Birger Sellin noch der Diskurs.

Dirk Knipphals