Der dreißigjährige Krieg

Angeblich ist er dafür verantwortlich, daß der deutschen Jugend die Lust am Trampen abhanden gekommen ist. Eduard Zimmermann wußte die Kriminalitätsfurcht der Nation ernst zu nehmen. Dabei leidet der gebürtige Münchner selbst nicht unter Verfolgungswahn. Er verfolgt nur Verbrecher und Ganoven – und das mit Leidenschaft. Inzwischen respektieren auch Liberale, daß der ZDF-Fahnder kein besinnungsloser „Law & Order“-Frontmann ist.

Nach 30 Jahren als Vater von „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ geht der Fernsehfahnder Eduard Zimmermann nun

in den Ruhestand – und mit ihm ein nicht unumstrittenes Stück TV-Frühgeschichte. Ein Porträt von Klaudia Brunst

Der dreißigjährige Krieg

Der Mann ist einen Meter fünfundsiebzig bis einsachtzig groß, untersetzt und von gepflegtem Äußerem. Auffällig sind seine rehbraunen Augen – die eine Wärme erahnen lassen, die er sich öffentlich nicht gestattet – und seine kantige Hornbrille, die eben das kaschieren soll. Seit 30 Jahren ist Eduard Zimmermann auf dem ZDF-Bildschirm zu sehen. 30 Jahre lang sah man ihn nicht lächelnd.

Denn seine Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ ist nicht zum Lachen. Zwar finden manche Leute die hölzernen Einspielfilme todkomisch, aber selbst dieser Begriff verbietet sich angesichts des zuweilen blutigen Sujets.

Wäre da nicht seinerzeit diese ärgerliche Geschichte mit dem Fertighaus aus Schweden gewesen, das Zimmermann ohne Dach geliefert wurde – wer weiß, ob er je zum Fernsehfahnder geworden wäre? So aber, bestürzt über die Erkenntnis, gegen den dreisten Betrug praktisch nichts ausrichten zu können, kam dem jungen Journalisten die Idee zu „Vorsicht, Falle“, einem TV-Ratgeber, der bis heute regelmäßig über die neuesten Methoden der „Nepper, Schlepper, Bauernfänger“ berichtet. „Von da aus war der Weg nicht mehr weit zu XY“, erzählt Ganoven-Ede jetzt anläßlich seines dreißigjährigen Dienstjubiläums allen, die es hören wollen. Plötzlich sieht man ihn, der mit seinem starren Gesicht zur TV-Ikone wurde, sogar lachen. Gut steht ihm das.

In der kommenden Woche wird Zimmermann sein „Aktenzeichen XY“, das von ihm mitentwickelte und in etliche Länder exportierte Fernsehformat, an seinen Nachfolger Butz Peters abgeben. In 300 Sendungen hat Zimmermann seit 1967 nach 566 Mördern gefahndet, in 579 Raubüberfällen und 455 Betrügereien seine Zuschauer im Namen der Polizei um Mithilfe gebeten. Intern ordnet die Redaktion den einzelnen Fällen Farben zu: Tod ist rot, Diebstahl gelb, Betrug grün. Über Jahre hinweg ergab sich mit den von der Polizei vorgeschlagenen Fällen eine ausgewogene Ampelmischung. Seit einigen Jahren, so Zimmermann, „haben wir oft drei rote in einer Sendung“.

Das Geschäft ist härter geworden, Zimmermanns „Kundschaft“ skrupelloser. „Aktenzeichen XY“ hat sich trotzdem nicht geändert. Immer noch präsentiert Zimmermann seine Fälle in der gleichen bahamabeigen Dekoration, und man meint, den Geruch der Möbelpflege zur riechen, mit der das Eichenmobiliar poliert ist. Die düsteren Einspielfilme, die die ungelösten Verbrechen nachzeichnen, sind auch heute noch so spartanisch wie ehedem – mit Bedacht.

Denn Regisseur Kurt Grimm legt Wert darauf, eine bestimmte Krimifaszination dem Verbrechen gegenüber tunlichst zu vermeiden. „Die öffentliche Kritik hat uns auch geholfen“, blickt Zimmermann zurück. Sie hat die Redaktion zu Vorsicht und Sorgfalt gezwungen, weil der publizistische Wind stets von vorn kam: „Die Treibjagd mit moralischem Alibi ist eröffnet“, prophezeite der Spiegel schon zum Sendestart 1967, und tatsächlich mutete Zimmermanns Aufforderung, Papier und Bleistift bereitzulegen, wie ein televisionäres Halali an.

Zu Beginn der TV-Fahndungsära erklärte der Fernsehsheriff seinen Zuschauern sogar noch, wie man die Fahndungsfotos zur besseren Erinnerung vom Bildschirm abfotografieren könne: Gleichwertige Resultate („Bedenken Sie, daß das Fernsehbild in Zeilen geschrieben wird, Sie dürfen also mit einer Verschlußzeit nicht unter 30/100 arbeiten!“) erziele man mit einem 21-DIN-Film bei Blende 4 oder bei 18 DIN und Blende 2,8.

Man mag kaum glauben, daß jemand dieser Aufforderung je gefolgt ist. „Wir wissen“, sagt Eduard Zimmermann, „daß unsere Zuschauer die Sendung ernster nehmen als fiktionale Krimis.“ Immerhin liegt die Aufklärungsquote der „XY“-Akten für hoffnungslose Fälle bei erstaunlichen 40 Prozent. Irgend jemand muß sein Leben also doch damit verbringen, all diese kleinen Ereignisse abzuspeichern. Wie die namenlose Zeugin im „Fall Rainer Reiber“, die den izmirgrünen Peugeot- Van des Vermißten am 20. September 1996 an einer Ampel gesehen haben will und sich das Kennzeichen merkte, „weil der Wagen an der Kreuzung so langsam anfuhr“.

Wenn das so ist – ist dann die Frage nicht doch berechtigt, ob jemand an einem bestimmten Werktag im September auf einem Parkplatz an der A 7, Fahrtrichtung Hamburg, Höhe Großburgwedel, eine ungewöhnliche Beobachtung gemacht hat? Oder die Frage nach dem Verbleib der Schaftstiefel Mil-Tec, Type Swat, Größe 42/43? Oder nach dem Textilklebeband „Advance“. Oder, oder, oder? In der „XY“-Spätausgabe wird ein Zuschauer die fraglichen Schaftstiefel noch einmal sehen wollen, und es gehen Hinweise ein, daß Herr Reiber wider Erwarten noch nach dem 20. September lebend gesehen wurde.

Natürlich hat die Zuschauerbeteiligung etwas abgenommen, seit nicht mehr nur drei, sondern nun 30 Kanäle gleichzeitig senden. Früher, in den Gründerjahren, hatte man der Konkurrentin ARD schon mal die „Tagesschau“-Quote (die damals noch nicht so hieß) zur Hälfte abgegaunert. Jetzt schauen in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht mehr 35 Millionen, sondern nur mehr acht bis neun hin. Der Fangquote tut das keinen Abbruch, die Zahl der aufmerksamen Mitbürger scheint eine fixe Größe zu sein.

Das Gros der „XY“-Zuschauer muß aber unbeteiligt bleiben, wenn es darum geht, Edes Gaunern das Handwerk zu legen. Wem nicht zufällig in einer Münchner Gaststätte eine Pistole mit eingraviertem Hiddenseekreuz angeboten wurde, hat bei der praktischen Fernsehfahndung das Nachsehen. Ein bißchen ist „Aktenzeichen“ deshalb wie Lottospielen. Die Chance, tatsächlich einmal eine sachdienliche Beobachtung gemacht zu haben, steht zwar mehr als schlecht. Aber es ist eben dann doch nicht ausgeschlossen, daß morgen schon Dein Hinweis zur Ergreifung des Täters führen könnte.

Das Sendungsbewußtsein der Sendung schließt einen medialen Selbstvergewisserungsprozeß ein, der wohl den wenigsten „Aktenzeichen“-Fans je bewußt geworden ist – und den die vehementen Kritiker des Formats mit ihrem Spitzelvorwurf unterschwellig mitgemeint haben müssen: In der Frühphase des Fernsehens, als das televisionäre Hinschauen noch weithin verpönt war, verschaffte das „Aktenzeichen XY“ seinen Zuschauern ein nachgerade revolutionäres Gruppengefühl.

Mit dem „Aktenzeichen“ war das massenweise Fern-sehen zur sinnvollen Staatsbürgerpflicht geadelt worden. „Das unsichtbare Netz“ nannte Zimmermann 1969 sein Buch zur Sendung. Und wenn dann tatsächlich Werner Vetterli (von dem wir Fernsehkinder lernten, wie es klingt, wenn Schweizer deutsch sprechen) oder Peter Nidetzky in der Spätausgabe unter deutlich hörbarem Telefonklingeln im Studiohintergrund erste wichtige Hinweise vermeldeten, dann sagte das vor allem: Das unsichtbare Netz trägt! Deshalb ist es richtig, daß Sie heute zuschauen.

Vor diesem Hintergrund wurden Zimmermanns sparsame Gesten und Moderationen zu televisionären Wunderwaffen. Ohne den aufdringlichen „Bleiben Sie dran!“-Sound je nötig gehabt zu haben, vergewissert er sich bis heute Sendung für Sendung dieses Wir-Gefühls seiner unsichtbaren Fahndungseinheit: „Ein Fall, wie wir ihn in 30 Jahren noch nicht erlebt haben“, erklärt er seiner imaginären Truppe ein ums andere Mal kopfschüttelnd.

Heute braucht es solche medialen Selbstvergewisserungsprozesse freilich nicht mehr. Die nun anbrechende Ära „Jenseits von Ede“, wie man beim ZDF den Personalwechsel nannte, wird mit dem smarten, ganz unväterlichen Frontmann Butz Peters nach einem neuen Sinn fahnden müssen. Nun wird das Studio renoviert, die Telefonanlage auf den neuesten Stand gebracht – und man munkelt, daß es demnächst sogar Internet-Fahndungen geben soll. Eduard Zimmermanns dreißigjähriger Krieg gegen das ewige Verbrechen ist vorbei.