Der Straßenschreiber

■ Er sei ein homerischer Sprecher, lobte Elia Kazan. Yasar Kemal wird am Sonntag der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen

Die Mächtigen in der Türkei haben noch nie etwas für den 74jährigen Romancier Yașar Kemal übriggehabt. Im vergangenen Jahr wurde Kemal, der am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennehmen wird, zu einer zwanzigmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Kemal hatte in dem Essayband „Die Gedankenfreiheit und die Türkei“ die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und die türkische Kurdenpolitik kritisiert. Das sei „Volksverhetzung“ und „Aufwiegelung zum Rassenhaß“, befanden die Richter des Staatssicherheitsgerichtes.

Die ehemalige türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller denunzierte den Schriftsteller einst als „Strolch“. Die ungeheure Empörung in der türkischen Öffentlichkeit führte dann jedoch dazu, daß Çiller ihre Worte dementieren ließ. Denn der Grandseigneur der türkischen Literatur wird von Millionen Lesern verehrt.

Kemal, der mit türkischsprachigen Romanen Berühmtheit erlangte, ist kurdischer Abstammung. Das Dorf Hemite in der südöstlichen Provinz Adana, wo heute ein Yașar-Kemal-Denkmal steht, ist ein türkisches Dorf. Die Eltern waren vor der russischen Besatzung geflohen und hatten sich dort niedergelassen. Im Alter von fünf Jahren, 1928, wurde Kemal Zeuge, wie der Vater von seinem Adoptivsohn Yusuf in der Moschee ermordet wurde.

Der Mord an dem Vater prägte Kemal: Durch den Schock verlor er seine Sprache und fand diese erst durch das Singen alter Balladen und Volkslieder wieder. Kemal lernte später als einziges Kind des Dorfes lesen und schreiben. Er arbeitete als Tagelöhner, Hirte, als Wasserträger und als Straßenschreiber für Analphabeten. Seine ersten Reportagen und Erzählungen erschienen Anfang der fünfziger Jahre in der Tageszeitung Cumhuriyet (Die Republik).

Auf den Baumwollplantagen Adanas, wo Großgrundbesitzer erbarmungslos das Landproletariat ausbeuten, ist Kemal großgeworden. Die archaischen Verhältnisse im Südosten der Türkei sind stets wiederkehrendes Motiv in den Romanen des Autors, der seit über vierzig Jahren in Istanbul lebt. Kemal, dessen Werke in Dutzende Sprachen übersetzt wurden und der unzählige internationale Literaturpreise erhielt, hat in seinem vielleicht berühmtesten Roman „Mehmed, mein Falke“ eine Symbolfigur des anatolischen Menschen erschaffen: Der Unterdrückung überdrüssig, tötet Mehmed den verhaßten Großgrundbesitzer und flieht daraufhin in die Berge.

Mehrfach hat Kemal hervorgehoben, welche Bedeutung für ihn die von Dorf zu Dorf ziehenden Volkssänger haben, die mündlich Legenden und Mythen überliefern. „Wenn das Leben den Menschen so hart an den Abgrund führt, dann muß er sich, um zu überleben, eine andere Welt erschaffen“, sagt Kemal. „Alle großen Epen, von den germanischen bis zu den ägyptischen, wurzeln in gewaltsamen Ereignissen. Wenn der Mensch bis an seine Wurzeln erschüttert ist, dann blühen die Religionen, die Propheten – und auch die Epen.“ In Kemals Werken sind es die Antihelden des unterdrückten Volkes, die wiederkehren. Elia Kazan meint, daß Yașar Kemal „ein Erzähler in der ältesten Tradition“ sei, „in der Tradition Homers, ein Sprecher für ein Volk, das keine Stimme hatte“.

Kemal begreift sich als moderner Nachfolger der anatolischen Volksliteratur im Osmanischen Reich. Unzählige Revolten gegen die Zentralgewalt in Istanbul und blutige Repression haben über Jahrhunderte die Volksdichter geprägt: Geschichten blutiger Unterdrückung. Kemal verweist auf Yunus Emre, der Anfang des 14. Jahrhunderts starb und dessen Todesort unbekannt ist. Doch unzählige anatolische Dörfer und Städte behaupten heute, daß der große mystische Dichter in ihrem Heimatort gestorben sei. Den „Zorn gegen die Mächtigen“ begreift Kemal als Ursache für die Liebe des Volkes zu Yunus Emre und zitiert einen Vierzeiler des anatolischen Volksdichters: „Der Herren Güte ist dahin / Sie reiten einher auf Araberpferden / Sie essen Menschenfleisch / Sie trinken Blut.“

Doch Kemal ist ein Autor der bürgerlichen türkischen Republik. Ja, er hat sogar das gleiche Alter wie diese Republik, 1923 wurde er geboren. Er teilte das Schicksal aller bedeutenden, republikanischen türkischen Literaten und war ebenso wie der Lyriker Nazim Hikmet und der Erzähler Aziz Nesin mehrfach hinter Gittern. Doch während für den Kommunisten Nazim Hikmet, der einer reichen osmanischen Familie entstammte, auch das urbane Leben den Stoff für seine Lyrik lieferte, sind trotz einiger Istanbuler Romane („Auch die Vögel sind fort“, „Der Zorn des Meeres“) Yașar Kemals bedeutendste Werke die anatolischen Romane.

In der Begründung für die Vergabe des Friedenspreises an Yașar Kemal heißt es: „Yașar Kemals Romane und Erzählungen sind mit unbestechlichem Blick für die Realität seines Landes geschrieben. Sie verbinden Elemente der Reportage und Dokumentation mit überlieferten Formen des Märchens und der Legende. Für Arme, Ausgebeutete und aus politischen und ethnischen Gründen Verfolgte hat sich dieser Anwalt der Menschenrechte selbstlos und mutig eingesetzt.“

Der medienscheue Yașar Kemal wollte nie im grellen Rampenlicht der Politik stehen. Er wollte seine Ruhe haben, um sich auf sein Schreiben zu konzentrieren. Doch die Repression und die Unterdrückung der Kurden forderten ihn zu politischer Intervention heraus. „Wie einst Hitler tanzen sie auf den Knochen der Toten“, klagte er vor acht Jahren die Regierenden an, als hungerstreikende politische Gefangene zu Tode geprügelt wurden.

Kemal war zur Stelle, als ein Bombenanschlag den Sitz der kurdischen Tageszeitung Özgür Ülke (Freies Land) zerstörte. Der Schriftsteller eilte wiederholt zu Hilfe, wenn unbekanntere Kollegen und Journalisten in die Mühlen der politischen Justiz gerieten. „Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, klagte Kemal die Regierenden an, sei es, „die Sprache der Kurden und ihre Kultur zu töten“.

Weil Kemal seine Kritik auch in ausländischen Medien vortrug, diffamierten ihn rechte und islamistische Medien als „Nestbeschmutzer“. Doch für die Masse der Türken und Kurden, in deren surrealen, mystischen Welten Yașar Kemal zu Hause ist, bleibt er der große, alte, ehrenhafte Mann, der Zeit seines Lebens Ehre und Aufrichtigkeit zum ethischen Prinzip erhob. Ömer Erzeren