Kindergeburtstag in Slow Motion

Sixties-Fans im Technoland: Beim 30. Steirischen Herbst werden dem angestammten Publikum Raversound und Videowände zugemutet. Aber auch in den ersten beiden Dimensionen findet Weltwahrnehmung statt: etwa mit einer seriellen Oma als Tapete  ■ Von Richard Stradner

Das Motto lautete „Körper in Gesellschaft“, und so war es natürlich kein Zufall, daß die Eröffnung des Steirischen Herbstes diesmal in einen drei Etagen füllenden Rave mündete. Dadurch wurde im 30. Jahr des Bestehens des Grazer Renommierfestivals auch endlich jene Bevölkerungsschicht angezogen, deren kontinuierliche Absenz man seit den frühen achtziger Jahren beklagt: Jugendliche im Alter von 15 bis 30. Wobei diese aber nicht gekommen waren, um sich „verstören“ zu lassen – zuvor eröffnete in denselben Räumlichkeiten der Ausstellungsschwerpunkt „Zonen der Ver-Störung“ –, sondern um bei Technostars wie Squarepusher oder D'Arcangelo einfach Spaß zu haben. Frühzeitig verstört verließen die Lärmzonen daher eher jene, die es sich im Vorjahr noch bei Polit-Prop-Dub-Reggae wohlergehen ließen, also die alte Garde der Herbst-Absolventen, von denen viele selbst aktive Teilnehmer des Festivals sind.

Für die im letzten Jahr berufene Intendantin Christine Frisinghelli begann der erste Steirische Herbst, bei dem sie für alle Programmpunkte allein veranwortlich ist, mit einem schlechten Omen: Im letzten Moment kündigte Einar Schleef sein Nestroy-Projekt auf. Das kurzerhand eingeschobene Traum-Stück „Skriker“ der englischen Erfolgsautorin Caryl Churchill fand bei Publikum und Presse bloß matten Anklang. „Verstörend“ daran wirkten höchstens die übergangslosen Identitätswechsel der Figuren, einige undurchschaubare Regie-Ideen und das permanente Oszillieren zwischen virtuellem und realem Geschehen.

Letzteres bildet – in den zahllosen Groß- und Kleinausstellungen und interdisziplinären Projekten mehr oder minder stark ausgeprägt – die zentrale Thematik des gesamten Festivals. „Mit den gesellschaftlichen Veränderungen“, meint Frisinghelli, „geht die Verschiebung der Rolle und der Grenzen des Körpers/Geschlechts/Subjekts einher. Die Wirkungsweisen technischer Kommunikationsmedien bringen gleichermaßen eine Verschiebung unserer Sicht des Privaten und Öffentlichen mit sich und verändern die bestimmenden Merkmale des Sozialen. Diese Veränderungen prägen die Konstitution des Individuums und seine gesellschaftliche Stellung ebenso, wie dadurch die Möglichkeiten verantwortlichen Handelns und die Orte sozialer und politischer Aktivität definiert werden.“

Die Medien also, was im Detail bedeutet: Kaum eine Installation, ein Event, eine Performance einschließlich des Literatursymposions und des Musikprotokolls kommt ohne den massiven Einsatz von Videowänden, Computern und Internet aus. Das mag zwar angesichts des Themas seine Berechtigung haben, bringt aber den Nachteil kontinuierlicher technischer Ausfälle und Programmabstürze mit sich. Darüber hinaus sind Kuratoren, Künstler und Angestellte dauernd dazu angehalten, dem meist ratlosen Publikum das Netz aus Bildern, Zeichen, Tönen, Geräuschen, deren tiefere Ironie und höhere Bedeutung zu erläutern, was der am Erlebnis interessierte Besucher aber gar nicht in Anspruch nehmen möchte. So fühlt man sich an den über Graz verstreuten Orten des Steirischen Herbstes eher wie auf einem Campus-Treff von Soft- und Hardware-Freaks denn auf kunstbesetztem Terrain.

Daß aber auch neue Medien sehr wohl imstande sind, Lebenswelten innerhalb der Welt kritisch zu spiegeln, ohne gleich dritte und vierte Dimensionen zu bemühen, zeigt etwa der etwas abseits vom Ausstellungsparcours gelegene „raum für kunst“, der sich wahrscheinlich deshalb klein schreibt, weil die zwei Galerieräume kaum 30 Quadratmeter fassen. „as large as life –in voller lebensgröße“ heißt das Ausstellungsprojekt von Junggalerist Anton Lederer, der in den letzten Jahren mit der namensgebenden „Peinlichgasse 14“ ein Biotop für junge Kunst und Künstlervolk geschaffen hat. Die 18 geladenen europäischen KünstlerInnen tauchen in ihren zumeist der persönlichen Lebenswelt entnommenen Arbeiten in den Mikrokosmos des Alltags und verstehen es, im Banalen oft Monströses sichtbar zu machen. So hat der Salzburger Friedrich Rücker das Dia-Archiv seines Großvaters durchforstet, der im Laufe von 40 Jahren an die 40.000 Urlaubsporträts seiner Frau geschossen hat.

Eine daraus getroffene Auswahl präsentiert eine Frau, die immer um die Sechzig bleibt, in wechselnden Kleidern vor wechselnden Hintergründen. Die Diaprojektion wird mit dem Homevideo einer kleinbürgerlichen Faschingsparty konfrontiert. Die Ikonisierung der Großmutterfigur hat der Künstler schließlich zynisch auf die Spitze getrieben, indem er den eingescannten Fotos den Hintergrund genommen und die Figur seriell als Tapete an die Wand geklebt hat. Die liebenswürdige Kleinbürgerin als Abziehbild ihrer selbst.

Die Osloerin Vibeke Tandberg entwickelt aus der Gleichung Simulation = Verdoppelung ein virtuoses fotografisches Vexierspiel mit der Wirklichkeit. Ihre computersimulierten Bilder geben scheinbar Einblick ins Privatleben eines Zwillingspaares, das in Wahrheit die Künstlerin/Fotografin selbst ist. In voller Lebensgröße präsentiert sich die Arbeit der Belgierin Christine Clinckx, die in einer Ecke der Galerie den Kartonschlafplatz eines Obdachlosen positionierte. Der Betrachter muß sich fast auf den Boden legen, um im Inneren des Karton-„Hauses“ der Filmprojektion eines Kindergeburtstages in Slow Motion beizuwohnen.

Um solche städtischen Realitäten dreht sich auch das Langzeitprojekt „Sex & Space – Raum, Geschlecht, Ökonomie“, das 1996 in der Zürcher Shedhalle seinen Ausgangspunkt genommen hat und nun im Forum Stadtpark seine Fortsetzung findet. KünstlerInnen und TheoretikerInnen entwickeln in Ausstellungen, Vorträgen, Workshops und Filmen einen Diskurs um „Architektur-, Stadt- und Planungsrealitäten als Repräsentationssysteme geschlechtsspezifischer Zuschreibungen“ und befragen diese auf ihr „Veränderungspotential“. Ganz praxisbezogene Themen wie die längst anstehende Vernetzung österreichischer Frauenwohnprojekte stehen spielerischen Comic-Untersuchungen auf Gender-Klischees oder Überlegungen zum Angsttraum Stadt gegenüber.

Das Grazer Publikum steht dem Programm von Intendantin Frisinghelli insgesamt recht reserviert gegenüber. Reserviert bis feindlich – was sich bereits bei der Eröffnungsveranstaltung abzuzeichnen begann. Da nämlich wurde dem Clubbing von Djane T-Ina und ihren Gästen kurzerhand der Saft entzogen, weil ältere Gäste auf dem ortsüblichen Sixties-Mix bestanden.

Noch bis 31. Oktober