■ Der lange Abschied von Nürnberg, Stadt des Kartoffelsalathumors
: Basdscho-Gemüt hißt S'wädschowiddä-Fahne

Zehn Jahre habe ich in Nürnberg gelebt, der Stadt des Lebkuchens, der Bratwurst und der Reichsparteitage. Zehn Jahre meiner Jugend, zehn verlorene Jahre, denn in Nürnberg ist jedes Jahr ein verlorenes Jahr. Nicht mal die Alliierten haben es geschafft, Nürnberg von seinem dumpfen Dasein zu befreien, obwohl sie sich ziemlich anstrengten und tonnenweise Bomben darauf warfen. Das war zwar ein guter Anfang, aber letztlich war dann doch alles vergeblich, denn die Alliierten hatten nicht damit gerechnet, daß der Brei aus Lebkuchen, Bratwurst und Nazis so zäh sein würde.

Als Einwohner dieser Stadt war mir das alles nicht bewußt, aber heute weiß ich, daß, wer zu seiner Stadt „Nänbech“ sagt, auch sonst ein bißchen verrückt oder – wie der „Nänbechä“ sagen würde – „ballaballa“ ist. „S'wädscho“ oder – wenn der Nürnberger besonders redselig ist – „S'wädschowiddä“ und „Basdscho“ lautet sein gebrabbelter Wahlspruch, was wörtlich übersetzt heißt „Es wird schon“ bzw. „Es wird schon wieder“ bzw. „Paßt schon“. Was immer das „es“ sein mag, das da schon wieder „wird“ oder „paßt“, es drückt einen ebenso naiven wie absurden Optimismus aus.

Nun irrt man, würde man annehmen, der Nürnberger wäre ein Mensch mit vielleicht schlichtem, aber sonnigem Gemüt. Nein, der Nürnberger ahnt, daß die Aussicht, alles gehe irgendwie weiter, schließlich auch zutiefst deprimierend ist. Und darauf hat ihn nicht erst Walter Benjamin gebracht, der dort gänzlich unbekannt ist. Dieser frustrierenden Perspektive begegnet der Nürnberger mit Eigenschaften, in denen er es zur Meisterschaft gebracht hat: mit Sturheit und Wortkargheit. An ihm perlt alles ab, solange er sich an einem Tresen festhalten und sich fatalistisch eines der schlechtesten Biere der Republik hinter die Binde kippen kann. Oder, wie mir der letzte noch in Nürnberg ausharrende Freund Dietmar Dorn optimistisch zukeckerte: Der Nürnberger ist weltoffen und gesprächsbereit. Man darf ihn nur nicht ansprechen.

Natürlich ist an dieser Dickfelligkeit noch jede Aufklärung gescheitert. Einer, der selber aus Nürnberg stammt und diese Stadt vermutlich aus reiner Notwehr schon frühzeitig verlassen hat, nämlich H. M. Enzensberger, hat dahinter die Renitenz als Tugend des Kleinbürgers ausgemacht. Aber diese Renitenz hat nichts mit Aufsässigkeit gegen Autoritäres zu tun, sie ist nur eine Attitüde, mit der angedeutet wird, man könnte so etwas wie eine widerständige Handlung unter Umständen und vielleicht in Erwägung ziehen, wenn man es der Mühe für wert befinden würde, einen Gedanken zu verschwenden, der über das nächste Tucher hinausginge, was nicht der Fall ist.

Wenn man also überhaupt von Widerstand sprechen kann, dann besteht der, wie der Ethnologe R.W.B. McCormack herausgefunden hat, beim Volksstamm der Franken in der Annahme, man könne bei Nebel besonders schnell auf der Autobahn entlangbrettern, weil man dann nicht gesehen und folglich auch nicht geblitzt werden kann. Die auf diese Weise auf eine Gesetzesübertretung zusammengeschnurrte Renitenz kommt zudem in der Regel nur in Zusammenhang mit einem Alkoholgenuß vor, der sich mit normalen Geräten gar nicht mehr messen läßt, weshalb es in Nürnberg spezielle Apparaturen gibt, die den Alkoholpegel auch im zweistelligen Promillebereich erfassen können.

Wenn es in Nürnberg so etwas wie Humor gibt, dann heißt der Kurt Hiesl: „Is miä schlääächt! Ich glaab, ich hob zvill Kadofflsalod geßn.“ Dieser Satz machte ihn bei den Nürnbergern unsterblich. Und weil es jedem Nürnberger, der etwas auf sich hält, schon einmal aufgrund des übermäßigen Verzehrs von Kartoffelsalat schlecht geworden war, aber niemand genau sagen konnte, warum die Einwohner der Bratwurststadt das lustig fanden, wurde diesem Geheimnis aus den Sechzigern vorsichtshalber mit der Aufrüstung der Ordnungsmacht zu Leibe gerückt. Nürnberg war in den siebziger Jahren die Stadt mit der höchsten Polizeidichte. Und obwohl die RAF um Nürnberg immer einen großen Bogen machte, wurden etliche von ihnen dort erschossen.

Ich selbst hatte Glück. Ich war nicht bei der RAF und wurde auch nicht erschossen, was aber leicht hätte passieren können. Durchaus normal war es beispielsweise, zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit auf der Straße angehalten zu werden, indem mir ein schnittiger BMW mit quietschenden Reifen die Vorfahrt nahm und nichtuniformierte Polizisten, sogenannte Zivis, mit MP im Anschlag heraussprangen, um mich in Schach zu halten. Nie habe ich eine Waffe besessen, wurde jedoch jedesmal auf derartige Geräte hin untersucht. Diese Prozedur nahm mindestens eine Stunde in Anspruch. Manchmal wurde ich auch ins Polizeiquartier mitgenommen. Dann dauerte es noch viel länger.

Eines Tages brachte mir ein Freund eine Tonbandkassette vorbei, auf der er den Polizeifunk aufgenommen hatte, dem zu entnehmen war, wo ich mich in den vergangenen Tagen überall aufgehalten hatte. Das aufmerksame Auge Nürnbergs wachte darüber, daß ich keine Dummheiten anstellte, von denen ich jedoch auch nicht wußte, worin die bestehen könnten. Zuletzt schließlich stellte ich fest, daß die polizeiliche Fürsorge um mich schier grenzenlos war. Gegenüber meiner Wohnung in einem Laden hatte die Polizei auf Kosten der Steuerzahler hinter heruntergelassenen Jalousien Quartier bezogen und Richtmikrophone und Kameraobjektive in Anschlag gebracht, um meinen geruhsamen Tagesablauf vollständig zu dokumentieren.

Irgendwann dämmerte es mir, daß ich auf derlei Abenteuer verzichten konnte, genauso wie auf das „Basdscho“-Gemüt meiner vernürnbergerten Mitmenschen. Wollte ich nicht als Bratwurst enden, über ein Bierglas hinweg mein Gegenüber mit einer „S'wädschowiddä“-Fahne anhauchen oder gar einen finalen Rettungsschuß zwischen die Rippen riskieren, mußte ich schleunigst verschwinden. Das tat ich auch, und das war weise.

Noch heute leide ich an den Langzeitschäden, die ein Jahrzehnt Nürnberg an mir hinterlassen haben: Immer wieder werde ich auf meinen Akzent angesprochen. Und wenn ich beschämt meine fränkische Herkunft gestehe, dann sehen mich die Leute voller Mitleid an oder machen sich laut lachend darüber lustig, wie mein Untermieter Wiglaf Droste, der ganze Abende damit zubringen kann, meinen Dialekt zu imitieren, am liebsten vor Gästen. Aber ich weiß, auch er hat eine schwere Jugend hinter sich: in Bielefeld, einer Stadt, die Nürnberg ziemlich ähnlich sein soll, und deshalb bin ich ihm auch nicht böse. Klaus Bittermann