Missionar ohne Huhn

■ Christoph Schlingensief will einfach nur helfen. Die Hamburger Benefiz-Gala "Passion Impossible - 7 Tage Notruf für Deutschland". Wahrscheinlich glaubt ihm wieder kein Schwein.

Glaubt man Christoph Schlingensief, gibt es nur eine Sache, die Christoph Schlingensief ernst ist: daß man Christoph Schlingensief glaubt. Und ernst nimmt. Natürlich ist es kein Zufall, daß in einem ersten Satz über Schlingensief dreimal Schlingensief vorkommt. Trotzdem trifft es nur die halbe Wahrheit, denn eigentlich, so der Apothekersohn aus Oberhausen, ist er sechs Schlingensiefs. So viele Kinder wollten seine Eltern haben und so viele Erwartungen mußte er zeitlebens erfüllen, weil er Einzelkind blieb. Jede Wurst, die er machte, wurde beäugt und als Werk beklatscht. Funktionieren nennt der über Würste und Kettensägenmassaker berühmt gewordene große Junge das heute, und funktionieren, wissen Schlingensief und die Welt seit vergangener Woche, will er nicht mehr. Zehn Jahre Enfant terrible des deutschen Films und vier Jahre anerkannter Berufsrabauke an der Berliner Volksbühne sind genug.

Am Freitag eröffnete Christoph Schlingensief in Hamburg mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Schauspielhauses eine Bahnhofsmission. „Ich weiß, daß viele von Ihnen erwarten, daß ich hier rumschreie, am besten kotze“, begrüßte der Neosozialarbeiter im gutgeschnittenen weißen Leinenanzug am Vorabend zu einer großen Benefizgala, „aber ich muß Sie enttäuschen. ,Wir wollen helfen‘ ist unser Motto. Da brauchen wir keine Kostüme mehr und sind einfach nur Menschen.“ Eine grauenerregende Vorstellung für den kunstinteressierten Teil des Publikums, der die Authentizitätsbekundung sofort mit einem Schlingel-wir- kennen-dich-Lachen zu entkräften suchte. Vergeblich. Da stand ein Missionar auf der Bühne, der seine „Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland“ zu erfüllen gewillt war. Und dafür weder zurückschreckte, Rita Süssmuth über Video mit Grußwort in den Saal einzublenden noch die öffentliche Schlachtung eines Huhns anzudrohen, sofern die Galagäste nicht 3.000 Mark spendeten.

„Ich bin jung!“ rief er eine Woche vor seinem 37. Geburtstag, „ich will selbst erleben!“ Erleben und leben lassen heißt die neue Devise Schlingensiefs, der sich seine Kultgemeinde einst über blutspritzige Splattermovies und den „Tötet Helmut Kohl!“-Slogan erschlossen hat. Letzterer hatte bei seiner documenta-Aktion „Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden überleben für Deutschland“ zu seiner vorrübergehenden Festnahme geführt – ein seltener wirkungsgeschichtlicher Glücksfall in der Kunsthistorie.

Die Erfahrung, daß Ende der Neunziger doch nicht alles erlaubt ist und Kunst nicht in einer hermetischen Welt agiert, trug wesentlich zur Entwicklung des Hamburger Projekts bei. Zwar konnte Oberpriester Schlingensief am Ende der vierstündigen Gala Teile des Publikums zum Mitsingen des zur Erkennungsmelodie avanzierten „Tötet Helmut Kohl“-Songs animieren. Das Entscheidende des Abends war jedoch nicht die Provokation, sondern die Irritation, was Theater und was sozialpolitisches Anliegen war, und inwieweit diese Strategien noch zusammengehen können und ab wann sie sich gnadenlos bloßstellen. Geladen war eine illustre Handvoll Prominenter und Hamburger Sozialarbeiter, die offensichtlich alle nicht wußten, was sie erwartete. Unterlegt mit Geigen, übertönt von Drums oder barsch unterbrochen von Bernhard Schütz – „Der einzige Weg zum Erfolg ist die Selbstvernichtung!“ – versuchten sie in der zwischen Wohltätigkeitsgutlaune, Peinlichkeit, Zynismus und ausgesteller Ehrlichkeit schwankenden Situation, was das Team ablehnt: zu funktionieren. Der Herr von der wahren Bahnhofsmission verlas Elend in Zahlen, eine Dame berichtete vom Obdachlosenfrühstück. Tagesschausprecher Wilhelm Wieben, dessen 20-Uhr-Sendung live übertragen worden war, sang hingegen aus dem „Weißen Rössl“ und gab seine Krawatte zur Versteigerung frei; Zazie de Paris spendete ihre Netzstrumpfhose, und André Eisermann machte sich durch die ihm eigene egomanische Verkennung der Situation lächerlich, während Katastrophenfilme liefen, die örtliche Taekwondo-Gruppe auftrat und immer mehr Gäste das Haus verließen. Bevor das Restpublikum aufgefordert wurde, zum „Wir wollen trauern“-Popmarsch die Bühne zu stürmen, griff der sichtlich erschöpfte Conférencier Schlingensief noch einmal das Mikro: „Ich fasse mal kurz zusammen, was bisher geschah: Müssen wir alles verstehen, oder müssen wir einfach handeln?“ Bis Mittwoch handeln Schlingensief und die üblichen Verdächtigen – Werner Brecht, Mario Garzaner, Kerstin Grassmann, Hanayo und Brigitte Kausch sind wie immer dabei – in der reichsten Stadt Deutschlands, in der das Schauspielhaus zufällig gegenüber dem Bahnhof und neben einer leerstehenden Polizeiwache liegt. Sie wurde mit Betten, Bühne und heißer Suppe ausgerüstet, ist täglich ab 14 Uhr geöffnet und stündlich besser besucht. Die Künstler in Uniformen sind anwesend, sofern nicht im mobilen Einsatz: In bester Living- Theatre-Tradition wurde Samstag ein russischer Reisebus gestürmt und versucht, die Bannmeile des Rathauses zu übertreten. Der „Tanztee für ältere Junkies“ am Abend entfaltete sich zur Speaker's Corner der Entrechteten. Interessant ist, daß die, in deren Namen die Aktion für zynisch befunden wurde, rein gar nichts Zynisches daran entdecken; sieben Tage Suppe und ein Mikrofon sind den meisten Obdachlosen und Fixern lieber als die permanenten Platzverweise gegenüber.

„Kann man hier mitspielen?“ fragte Freitag ein 20jähriger den Chef unter der Polizeimütze. „Klar!“ „Geil. Was soll ich spielen?“ „Mensch.“ „Mensch?“ „Mensch.“ Verwirrte Pause. „Was für'n Text hab' ich denn da?“

Schlingensief light nennen einige eingefleischte Fans die Aktion, aber vermutlich gelingt dem Charismatiker in Hamburg gerade sein größter Coup. Ernsthafte Irritation. Ganz ohne tote Hühner und Würste. Christiane Kühl

„Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland“. Regie: Christoph Schlingensief. Eine Produktion des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, bis 22. 10., täglich von 14 bis 23 Uhr

Zu Christoph Schlingensief als Talkmaster Medien, Seite 14