Wie deutsches Militär seine Soldaten drillt

■ Ob menschliche Schießautomaten oder Enthusiasten, schon immer wurden Soldaten zu Befehlsempfängern erzogen. Ulrich Bröcklings glänzende Geschichte militärischer Disziplin

Disziplin, Ordnung, Sauberkeit – deutsche Klischees. Einen „marschierenden Wald“ nannte Elias Canetti uns – allerdings nicht so einen tropischen, mit Schlingpflanzen und Sumpf, sondern einen grad gewachsenen, lichten, regelmäßigen. Wohl nicht zu Unrecht wurden Deutschland und seine Armee gleichgesetzt. Auf diese Weise konnte Deutschland zum Vorreiter jenes stahlharten, am Modell des sozialen Laboratoriums „Heer“ geschulten Gehäuses der Hörigkeit werden, als das Max Weber Staatlichkeit in Zeiten universaler Disziplinierung begriff.

Obwohl Max Webers Analysen schulbildend waren, interessierte sich die Soziologie bislang kaum für eine detaillierte Untersuchung militärischer Disziplinierungstechniken. In acht historischen Schnitten, auf sechs systematischen Plateaus liefert nun Ulrich Bröckling eine solche nach. Diese Technik ermöglicht ihm, die Geschichte militärischen Befehlens und Gehorchens diachron zu verfolgen und gleichzeitig als synchrone Tiefenschichtung zu begreifen. Dabei kommt es ihm darauf an, das Zusammenspiel von Befehl und Gehorsam an das jeweilige technische Niveau militärischer Rüstung anzubinden.

Moritz von Oranien begründete zu Beginn des 17. Jahrhunderts die moderne Heerführung im Geiste neustoischer Affektregulierung: Soldatenkörper wurden auf die Unterdrückung jeder Gefühlsregung und pünktlichste Befehlserfüllung hin gedrillt. Das friderizianische Preußen perfektionierte diese Technik mit dem Ziel der Herstellung vollkommener Schießautomaten. Unter dem Druck der Revolutionsheere Frankreichs und der napoleonischen Besetzung begann der deutsche Generalstab umzudenken. „Enthusiasmus“ und „Leidenschaft“ ersetzten den Kadavergehorsam: davon legen die Texte Heinrich von Kleists beredt Zeugnis ab. In den Befreiungskriegen hat die Ideologie des Selbstopfers im süßen Tod fürs Vaterland, die den deutschen Patriotismus bis in den Zweiten Weltkrieg hinein prägen sollte, ihren Ursprung. Der körperliche Drill dient jetzt nicht mehr vornehmlich der Eintrainierung festgelegter Bewegungsfolgen, sondern wird als Instrument zur Unterwerfung eingesetzt, mit dessen Hilfe verhindert werden sollte, daß aus enthusiasmierten Kämpfern revolutionäre Massen wurden.

Letztere zu kontrollieren wurde mit der Niederschlagung der Märzrevolution 1848 zu einer zentralen Aufgabe des Militärs: Das Gespenst des „inneren Feindes“ war geboren. Daß eben dieser selbst kräftig mithalf, die zum Teil verelendeten Massen im Zaum zu halten, gehört zu den erstaunlichsten Ergebnissen der Bröcklingschen Disziplin-Geschichte. Aus Angst vor Repressalien und im Bann der Entwicklungslogik des historischen Materialismus, die notwendigerweise auf eine Sozialisierung der Gesellschaft hinauslief, sprach sich die deutsche Sozialdemokratie immer gegen den offenen Kampf mit dem wilhelminischen Militärstaat aus. Dabei brachte sie das dialektische Kunststück eines „gehorsamen Antimilitarismus“ zustande, der sich nicht nachsagen lassen wollte, „das Vaterland in der Stunde der Not im Stich zu lassen“: Hatten sie im Juli 1914 noch für den Frieden demonstriert, zogen ihre Anhänger im August willig in den Ersten Weltkrieg. Dort entstand ein neuer, medizinischer Typus der Gehorsamsproduktion. Die grauenhafte Realität des Schützengrabenkriegs in der Form von „Feuerwalze“ und „Blutpumpe“ machte aus manchem glutvollen Vaterlandsverteidiger einen von nervösen Ticks geschüttelten Kriegszitterer. Zur Wiederherstellung der Wehrkraft setzten die Militärpsychiater brutalste Foltermethoden ein – Isolationshaft, Essensentzug, Elektroschocks, Scheinoperationen und Kochsalzeinspritzungen ebenso wie hypnotische und psychoanalytische Therapietechniken.

Wer im Ersten Weltkrieg noch pathologisiert wurde, den vernichtete man im Zweiten Weltkrieg getreu der Devise Hitlers: „Wer kämpft kann, wer desertiert muß sterben.“ Der totale Vernichtungskrieg, den die Wehrmacht führte, ließ keine Ausnahmen zu. Daß es trotzdem eine beträchtliche Anzahl Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“ gab, dokumentiert einerseits, wie lückenhaft die vorgeblich totale Erfassung war und andererseits, daß der angebliche „Befehlsnotstand“, auf den sich Kriegsverbrecher bis heute berufen, eine bloße Schutzbehauptung war und ist. Gerade darin ist der Grund für das anhaltende Scheitern der Bemühungen zu suchen, Deserteuren ein Denkmal zu setzen: „Die Ungehorsamen müssen ehrlos bleiben, damit die Ehre der Gehorsamen gewahrt wird.“

Daß die Formen des Ungehorsams den gleichen historisch bedingten Disziplinierungsdispositiven zugehören wie die Verhaltensweisen der Befehlserfüllung, mehr noch, daß gehegte Formen des Ungehorsams wider die landläufige Meinung durchaus militärischem Kalkül entsprechen können, demonstriert eindrucksvoll Bröcklings letztes Kapitel, das unter dem Titel „Die Substitution des Menschen. Das System der Abschreckung“ seine Analyse an die unmittelbare Gegenwart heranführt. Da in High-Tech-Armeen wie der Bundeswehr Soldaten einfach antiquiert sind und Krieger mehr und mehr durch hochspezialisierte Techniker ersetzt werden, ist Widerstand der Art „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ schlicht wirkungslos.

Bröcklings Buch ist jedoch nicht nur seines hochspannenden Inhalts wegen empfehlenswert, sondern auch in Aufbau und Stil gelungen. Ohne je den roten Faden zu verlieren, lassen sich alle Kapitel auch einzeln und in veränderter Reihenfolge lesen. Bröcklings Sprache ist klar und präzise, vermeidet trotz der Nähe zu Foucaults Machtanalysen jeden Jargon und wegen dieser Sympathien alle moraline Säuerung. Albert Kümmel

Ulrich Bröckling: „Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion“. Wilhelm Fink Verlag, München 1997, 365 Seiten, 58 DM