Angst und Apathie in Algerien

Vor den Kommunalwahlen am Donnerstag sind die Veranstaltungen der Regierungspartei schlecht besucht. In der Kasbah von Algier traut sich kaum jemand zu reden. Eine Lösung der Probleme erwartet niemand  ■ Aus Algier Reiner Wandler

„Mütter, Väter, Töchter, Brüder, die ihr für Algerien kämpft, die ihr für Algerien gestorben seid! Algerien hat den Blick in die Zukunft gerichtet“, ruft der untersetzte Mann im hellgrauen Anzug von der Bühne hinab. Die Menschen im Saal springen von ihren abgewetzten Plüschsesseln auf und applaudieren stürmisch. Irgendwo erklingt plötzlich eine Trommel, Flöten fallen ein. Die Menge bewegt sich tanzend auf den Ausgang zu. „Hoch lebe Algerien“ – „Für Algerien bis in den Tod“ rufen sie rhythmisch.

Tayeb Zitouni, der Mann von der Bühne, ist zufrieden: „Ein voller Erfolg. Unsere Veranstaltungen sind immer gut besucht“, beteuert der 31jährige Ingenieur und Spitzenkandidat der Nationalen Demokratischen Versammlung (RND) in der Innenstadt Algiers. Von einer totalen Apathie der Bevölkerung, wie sie die Oppositionsparteien im Vorfeld der am Donnerstag stattfindenden Kommunalwahlen beklagen, will er trotz des nur halbvollen Kinos in der Geschäftsmeile der Stadt nichts wissen.

Zitounis Partei, die RND, ist erst im Frühjahr dieses Jahres entstanden, und doch lenkt sie seit den Parlamentswahlen im Juni die Geschicke des Landes. Alle Oppositionsparteien sprachen damals von Wahlbetrug. Jetzt setzt die von hohen Vertretern aus Staat und Gesellschaft eigens zur Unterstützung von Ex-General und Präsident Liamine Zéroual gegründete Partei zum Sprung in die Rathäuser an. „Wir haben Algerien die Stabilität zurückgegeben und die Probleme gelöst, die die Bevölkerung bedrücken“, sagt Zitouni.

Auch seine Anhänger verbreiten Optimismus. Auf die grausamen Überfälle der letzten Wochen angesprochen, bei denen vermutlich die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) in den armen Vororten Algiers Hunderte von Menschen töteten, winkt ein gut gekleideter Herr gelassen ab. „Verstreute Restgruppen. Das Militär hat alles im Griff. Ein Land ohne Probleme ist kein richtiges Land.“ Von einer möglichen Einmischung der UNO in den Konflikt, der seit dem Verbot der Islamischen Heilsfront (FIS) 1992 rund 120.000 Tote forderte, will der leitende Bankangestellte erst gar nicht reden.

Die meisten RND-Anhänger sind Überläufer aus der ehemaligen Einheitspartei FLN. Viele haben einen guten Posten in der Verwaltung oder staatlichen Betrieben. Den wirtschaftlichen Einbruch, der seit dem Verfall der Erdölpreise 1986 immer mehr Leute auch aus dem einstigen Mittelstand in die Armut absacken ließ, mußten sie nie am eigenen Leib verspüren.

Am anderen Ende der Innenstadt sieht das anders aus. Das Gedränge in den Gassen, die hinauf in die verwinkelte Altstadt, die Kasbah, führen, läßt die Überbelegung der Wohnungen hinter den verfallenen Fassaden erahnen. Die Versprechungen der früheren Einheitspartei FLN, etwas an dieser Situation zu ändern, wurden in der Zeit ihrer Herrschaft nicht erfüllt. Aus Protest gegen die Untätigkeit der Verwaltung gaben bei den letzten Kommunalwahlen 1990 und den Parlamentswahlen 1992 viele der Menschen der FIS ihre Stimme. Die Islamisten gewannen, das Militär brach die wahlen ab.

Kein Teil der Innenstadt hat so unter dem Konflikt zwischen Armee und Islamisten gelitten, wie die Kasbah. Ob Militärrazzien gegen bewaffnete Islamisten unter Einsatz von Maschinengewehren und Granatwerfern oder Bomben der GIA, wie die, die kurz vor den Parlamentswahlen auf einem Markt sieben Menschen in den Tod riß, die Leute hier trifft es immer. Um so verwunderlicher war es, daß vor den Parlamentswahlen viele bereitwillig über ihr Stimmverhalten Auskunft gaben – meist blieben sie zu Hause.

Jetzt, nur vier Monate später, ist die Stimmung deutlich anders. „Keine Zeit“ – „Ich spreche kein Französisch“, antworten viele Befragten höflich, aber bestimmt auf die Frage nach der aktuellen Lage und die Welle der Gewalt. Ein ängstlicher Blick auf die Seite verrät den Grund für die Wortkargheit. Zu den üblichen vier Leibwächtern aus dem allgegenwärtigen Begleitfahrzeug sind längst ein Dutzend weitere hinzugekommen. Keiner weiß woher, plötzlich waren sie da, lungern auffällig unauffällig herum und beobachten die Szene. „Sie dürfen die Menschen halt nicht so indiskret ansprechen, dann gehen sie auch nicht weiter“, erklärt einer der Zivilpolizisten, der wieder einmal den auserbetenen Mindestabstand von zehn Metern nicht respektiert.

„Das ist der schlechteste Stadtteil, um die Leute zu befragen, hier sind alle ganz angespannt“, sagt ganz unverhofft ein junger Mann, der mit drei Freunden von einer Eingangstreppe aus die Straße beobachtet. „Sie haben zuviel erlebt“, schiebt er noch hinterher. Dann zieht auch er es vor, nicht länger von Politik zu reden und wechselt zum Fußball: „Damals, 1982 bei der Weltmeisterschaft, als Algerien Deutschland besiegte...“

Was die Menschen hier erlebt haben, wird klar, als zwei Jugendliche mal so eben zum Spaß im Vorbeilaufen auf eine Zeitung tatschen, die ein Reporter vor einer Fernsehkamera aufgespannt hat. Das spitzbübische Grinsen gefriert ihnen im Gesicht, als sie sofort von zwei Zivilbeamten in einen Hauseingang abgedrängt werden und die Tür von innen ins Schloß fällt.

Schließlich findet sich doch noch jemand, der trotz Polizeiaufgebot erfreut auf die ausländische Presse reagiert. „Der einzige Lichtblick in einer verfahrenen Situation“, nennt der weißhaarige, zahnlose Alte auf einem Mäuerchen vor der Basilika Notre Dame d'Afrique die Fremden. Der 75jährige einstige Kfz-Schlosser kommt jeden Tag die enge, gewundene Straße herauf. Er genießt die Ruhe und den Ausblick über die gesamte Bucht von Algier. Die schwerbewaffneten Polizisten, die eine der letzten noch funktionierenden christlichen Kirchen bewachen, seit zwei der hier oben lebenden spanischen Nonnen vor drei Jahren von radikalen Islamisten erschossen wurden, kennt er längst alle bei Namen. Den Blick starr auf den Horizont gerichtet, hängt der Alte seinem Weltschmerz nach – über sein Algerien, das heute so darniederliegt.

„Früher war das Land ein Paradies“, beteuert er. Stolz fügt der Alte hinzu, daß auch er im Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich seinen Teil dazu beigetragen hat. „Damals unter Präsident Boumedienne“ – der Greis träumt noch immer von dem Mann, der mit seinen sozialistischen Experimenten anfing, das Land zu industrialisieren, das Bildungssystem auszubauen. Danach sei dann alles in Korruption versunken. „Armut und Arbeitslosigkeit sind die Folgen. Längst verschwindet der Reichtum aus Erdöl und Erdgas in irgendwelchen dunklen Kanälen und in den Kassen der westlichen Konzerne. „Das sind die wahren Gründe des bewaffneten Konflikt hier. Nur ein Dialog kann jetzt weiterhelfen.“

Sein Entschluß für die Kommunalwahlen am Donnerstag steht: „Ich habe nie gewählt, und ich werde auch dieses Mal nicht wählen.“ Nur in einem ist sich der Alte mit denen, die heute am liebsten das Erbe des Unabhängigkeitskriegs für sich vereinnahmen würden, einig: Auch er lehnt eine internationale Einmischung strikt ab. Sich von außen in die Angelegenheiten seines Algeriens hineinschwätzen lassen – niemals.