"Günter Grass hat Gutes getan"

■ Der frühere Ostexperte der SPD, Egon Bahr, über die Rede des Schriftstellers Günter Grass und die Reaktionen der Politik. Er habe auf die deutsche "Heuchelei" gegenüber der Türkei hingewiesen

taz: Günter Grass hat mit seiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den türkischen Schriftsteller Yașar Kemal die deutsche Kurdenpolitik auf die Tagesordnung gebracht. Wie wichtig war die Rede?

Egon Bahr: Zunächst einmal muß ich die Türkei loben. Ich kann mich nicht erinnern, daß ein Kabinettsmitglied des abendländischen Musterlandes Bundesrepublik Deutschland Grass jemals ins Ausland begleitet hat, um dabeizusein, wenn ein kritischer Schriftsteller geehrt wird. Der türkische Kultusminister war aber anwesend, als Yașar Kemal in Frankfurt von Grass gewürdigt wurde. Nun kommt die Kritik an der Türkei. Wenn sie heute nicht Mitglied der Nato wäre, würde sie die Kriterien für eine Aufnahme nicht erfüllen. Die Konflikte mit den Mitgliedsstaaten Griechenland und Irak sind zu groß, dazu kommt die ungelöste Minderheitenfrage mit den Kurden. In dieser Situation hat Grass die Selbstverständlichkeit verbrochen, ohne diplomatische Floskeln eine Wirklichkeit zu schildern, nämlich die der Heuchelei. Seine Aussage, daß wir Waffen in ein Spannungsgebiet geliefert haben, auch zum Einsatz gegen Kurden, denen nicht automatisch in Deutschland Asyl gegeben wird, entspricht der Wahrheit.

Die CDU, in Gestalt ihres Generalsekretärs Peter Hintze, tobt.

Die offizielle deutsche Haltung ist begründbar mit der Rücksicht auf den geostrategischen Wert der Türkei. So ist nun einmal die Welt. Und was den Herrn Hintze angeht: Er ist viel zu intelligent, um an seine eigenen Worte zu glauben, daß Grass intellektuell nicht mehr ernst zu nehmen sei.

Weshalb dann seine polemische Reaktion?

Die Freiheit der Meinungsäußerung muß in diesem Land unantastbar sein. Egal, ob es einem gefällt oder nicht. Der Herr Hintze hat wahrscheinlich draufgehauen, weil er die Gesetze des intellektuellen Anstandes, die er sich gegenüber einem Nato-Mitglied wünscht, nicht in der Innenpolitik gelten läßt.

Bedauern Sie, daß es nicht mehr Unterstützung für Grass gegeben hat?

Das kann ich nur dann bedauern, wenn ich weiß, woran das gelegen hat.

Hätten Politiker die von Grass angesprochenen Probleme nicht schon vorher thematisieren können?

Bei den deutschen Waffenlieferungen an die Türkei, der Frage der EU-Mitgliedschaft, der Lage der hier lebenden Türken, dem jüngsten Erpressungsversuch der Türkei, die Nato-Osterweiterung zu torpedieren, sollten sie nicht in die EU aufgenommen werden – hierbei handelt sich um einen jahrelangen Prozeß, über den sich Mehltau gelegt hat. Es ist aber ungerecht zu sagen, warum hat das nicht schon jemand vor einer Woche gesagt. Es gab dazu keinen entsprechenden Anlaß.

War Politik früher moralischer als heute?

Nein. Ich finde, daß die junge Generation die Vergangenheit ein bißchen verklärt. Der Streit über die Moral in der Politik ist älter als dieses Jahrhundert. Wir haben schon früher erlebt, daß jemand gesagt hat, wenn die SPD regiert, hat das den Untergang Deutschlands zur Folge. Heute sind sie ja sogar milde geworden. Da heißt es nur noch „Unglück“.

Hat Grass den Politikern die Arbeit abgenommen?

Das wollte er nicht, und das kann er auch nicht. Die Arbeit muß die Politik machen. Aber er hat Gutes getan, indem er ein Stück Wirklichkeit grell erleuchtet hat. Interview: Markus Franz