Handel mit Menschenleben

Eine ganz normale Bestie: Aleksandar Tišma zeichnet in „Kapo“ das Psychogramm eines jüdischen Auschwitz-Überlebenden, der selbst zum Täter wurde  ■ Von Balduin Winter

„Ich war kein Mensch der Tat, sondern ein Schriftsteller, dem zwar Dinge widerfuhren wie allen anderen Menschen auch, der aber die Geschehnisse damit beantwortet, daß er sie beschreibt. Ich schrieb also die nächsten Jahrzehnte wie in einem Traum.“

Aleksandar Tišma, geboren 1924 in der Vojvodina als Sohn einer jüdischen Mutter und eines serbischen Vaters, widerfuhren einige der unfaßbaren Alltäglichkeiten dieses Jahrhunderts. Als Achtzehnjähriger erlebte er das Massaker von Novi Sad, als die ungarischen Faschisten mehrere tausend Juden und Serben unter das Eis der Donau schossen. Sein nachfolgendes Schreiben „wie in einem Traum“ kreist um dieses traumatische Ereignis.

In seinen Romanen und Erzählungen entwirft er anhand der Schicksale vorwiegend jüdischer Personen aus der Gegend von Novi Sad ein pessimistisches Weltbild, in dem das „Gesetz des Bösen“ vorherrscht. So ist auch eine in Variationen wiederkehrende Hauptfigur, der den Holocaust überlebende Jude, dem Kreislauf der menschlichen Barbarei verhaftet: als Kollaborateur wie zwei seiner Personen im Roman „Der Gebrauch des Menschen“; als mit Schande verschont Gebliebener wie die Titelfigur in „Das Buch Blam“ oder als sein Judentum ableugnender Täter wie in dem 1987 in Belgrad erschienenen Roman „Kapo“, der nunmehr in der bewährten Übersetzung von Barbara Antkowiak auf deutsch erschienen ist.

Vilko Lamian, Jude aus Bjelovar, hat unter falscher Identität die Vernichtungslager von Jasenovac und Auschwitz überlebt. Als Preis für das Davonkommen mußte er zahlreiche Verbrechen begehen. Mußte er? Er verbündete sich mit einem SS-Offizier, dem er Zahngold von Leichen beschaffte. Dafür wurde er Werkstattkapo, bekam Lebensmittel und Frauen, deren Hunger er ausnutzte, um sie sexuell zu mißbrauchen. Als harter Kapo war er bereit, für die SS Mordaufträge durchzuführen. Dafür wurden seine illegalen Geschäfte im Lager geduldet: „Er war ein Tauschhändler. Er handelte mit Menschenleben.“

Vilko Lamian ist kein Monstrum, sondern ein ganz normaler Mensch. Von denen Tišma freilich wenig hält: „Nach meinem Weltgefühl ist der Mensch ein sehr niedriges Wesen. Und jede Manifestation seiner Niedrigkeit ist ein neues Detail, das uns das Bild vom Menschen vervollständigt“, sagte er in einem Interview. Lamian verbringt, wie viele Figuren bei Tišma, eine unauffällige Kindheit und Jugend in einem Städtchen, in dem Kroaten, Serben, Juden, Ungarn und Deutsche in Idylle und Niedertracht mehr oder weniger friedlich mit- und nebeneinander lebten – jenes buntscheckige Szenario, das der Autor bereits in anderen Romanen geschildert hat.

Lamian wird katholisch getauft, er soll es einmal leichter haben, seine Herkunft soll ihm nicht zum beschwerlichen Schicksal werden. Er selbst empfindet das Judentum, ebenso die Kleinstadt, als Fessel. Während seiner Studienzeit in Zagreb unternimmt er einiges, um sich zu assimilieren, obwohl er sich vom Ustascha-Faschismus angewidert und angegriffen fühlt. Die einzige Herzensbeziehung in seinem Leben bricht er aus Angst ab, seine Herkunft könnte öffentlich bekannt werden; nur heimlich, zur Befriedigung seiner Lust, trifft er sich noch mit der Jüdin Branka. Seinem Werben um eine „reinrassige“ Kroatin kommen Krieg und Verrat dazwischen, statt gesellschaftlich aufzusteigen findet er sich in Jasenovac wieder.

Eine Schule des Überlebens – wer fragt da nach dem Preis? Wer fragt nach Moral und Schuld, wenn es darum geht, die winzigen Möglichkeiten zu nutzen, den Schlächtern zu entkommen, und sei es auf Kosten der Mitgefangenen? Was nutzt es, den Eltern auf dem Transport in die Vernichtung ein Zeichen zukommen zu lassen, wenn man für denselben Preis, ein paar Stiefel, den Wächter bestechen und den Kopf aus der Schlingeziehen kann? Vilko Lamian schlüpft in die Identität eines Toten, überlebt Jasenovac, überlebt als Kapo Furfa Auschwitz, überlebt dank Wiederannahme der früheren Identität die Rückkehr nach Jugoslawien. Dort kennt nur eine andere Überlebende von Auschwitz, Helena Lifka, die Verbrechen des ehemaligen Kapo. Als Opfer seiner Vergewaltigungen weiß sie, daß er „eine Bestie, ein Monstrum, ein Folterknecht, ein Hitlerkapo, ein Erzfeind, ein Erzverräter“ ist.

Um jede Möglichkeit einer Begegnung zu vermeiden, zieht er nach Banja Luka, weit entfernt von ihrer Heimatstadt Subotica. Er verändert sein Aussehen durch Brille und Bauch, wird ein unauffälliger Katasterbeamter, ein ganz normaler, zurückgezogener Bürger, dessen Verschlossenheit aufgrund seines Lageraufenthalts verständlich scheint.

Ein banaler Vorfall, der Fund einer Zeitung aus Subotica, löst bei Lamian einen Erinnerungsschub aus. Immer stärker bedrängen ihn die Vergangenheit, sein verleugnetes Judentum, seine Opfersituation und seine Täterschaft, bis er sich auf die Suche nach Helena Lifka macht. Mit der Begegnung zwischen einer Greisin und dem alten Mann setzt Tišmas Roman ein, der sich entlang zweier Erzählstränge entfaltet. Das aktuelle Geschehen dreht sich um die verschiedenen Phasen von Lamians Suche, in Bewegung gehalten oder auch geblockt durch seine Erinnerungen, aus denen sich dem Leser allmählich die Biographie Lamians erschließt.

Tišma nimmt das Ergebnis der Suche vorweg, um sich dann ganz auf die suchende Bewegung zu konzentrieren, auf die verzweifelte und vergebliche Anstrengung einer niedrigen Kreatur, den Zirkel von Schuld und Schande zu überwinden. Trotz mancher Längen gelingt ihm ein erschütterndes Psychogramm, wobei er mit seiner Figur weder abrechnet noch ihr Mitleid gewährt. Tišmas Menschenbild läßt keine andere Lösung als Scheitern zu. Es gibt zwar Momente der Ruhe, der Distanz von den quälenden Bildern, der Hoffnung. Aber der Mensch, der die niedrige Schwelle zwischen Normalität und Bestialität so leicht überschreitet, ist verdammt, im Schatten seiner Schuld zu leben. Er ist ein Kapo, den kein Gott erlösen kann.

Aleksandar Tišma: „Kapo“. Roman. Aus dem Serbischen von Barbara Antkowiak. Hanser Verlag, München 1997, 350 Seiten, 45DM