Farben der Rose und der Holzkohle

Afrika meets Hollywood in Brasilien: Carlinhos Brown gehört zur New Power Generation des Postkolonialismus. Der Multiinstrumentalist paart die Polyrhythmik Brasiliens mit moderner Klangtechnologie. In Brasilien ist er so bekannt wie ein Fußballstar  ■ Von Daniel Bax

Mit müden Augen, aber klarem Kopf sitzt ein erschöpfter Carlinhos Brown im Hinterzimmer der Hamburger Konzerthalle. Einen Kreis vorwiegend brasilianischer Journalisten andächtig um sich geschart, philosophiert er freihändig über Gott und die Weltgeschichte. Und das, obwohl der rastalockige Extrempercussionist gerade erst knappe drei Stunden lang wie wild und ohne Luft zu holen über die Bühne gefegt ist.

Seinen Gedankensprüngen zu folgen erweist sich mitunter als genauso schwierig wie seiner agilen Bühnenakrobatik. Eben noch über das Internet dozierend – „ein Fieber für Erwachsene, das wieder vorbeigeht“ –, witzelt er eine Minute später schon über den Rinderwahnsinn: der sei womöglich eine verschlüsselte Botschaft Mahatma Gandhis – der das Geschehen vom Himmel aus verfolge – an die ehemaligen Kolonialherren.

Das CNN-Weltbild in Frage stellen

Auch Carlinhos Brown hat eine Botschaft an die Alte Welt mitgebracht. Den Fernsehjournalisten vom Musiksender VH1 entgegnete er: „Ich möchte dieses CNN- Weltbild in Frage stellen, das nur das Elend der Dritten Welt reproduziert: Slums, Hunger, Massaker, Morde – als würde die Welt nur daraus bestehen! Das ist eine sehr mittelmäßige Sichtweise, die aus einer kolonialistischen Perspektive herrührt. Die Medien müßten positive Ansätze zeigen, das Experiment der Dekolonisation. Wäre die Welt aufmerksam, würde sie sehen, daß das größte Ereignis des Jahrhunderts die Rassenmischung ist, die in Brasilien stattgefunden hat.“

Stromstöße ins nächste Jahrhundert

Wenn es so kämpferisch aus ihm heraussprudelt, wirkt Carlinhos Brown wie eine Mischung aus Frantz Fanon und Lenny Kravitz. Aber führen Vergleiche nicht stets in die Irre? Seinen Nachnamen hat er, anders, als oft kolportiert, nicht James Brown, sondern einem frühen Black-Power-Führer entlehnt. Die exzentrische Bühnenshow erinnert, nicht zuletzt durch Pantomime-Einlagen mit Papierschiff und Lichtschwert, eher an George Clinton als an den Godfather des Soul. Und was die Musik angeht, machen Vergleiche ohnehin keinen rechten Sinn: Eklektizismus a gogo.

Der Multiinstrumentalist paart die traditionelle Polyrhythmik Brasiliens mit moderner Klangtechnologie, vereinigt afrikanische Roots mit portugiesischem Rap und führt die brasilianische Popmusik mit kräftigen Stromstößen ins nächste Jahrhundert.

Zu Hause wird der Crossover- Ausnahmekünstler dafür wie ein Fußballstar verehrt. Eine Legende, lange bevor er letztes Jahr sein langerwartetes Debütalbum „Alfagamabetizado“ veröffentlichte: Seit 20 Jahren als Musiker aktiv, gehen rund 500 Kompositionen auf sein Konto, ganze 30 Titel davon avancierten zu Nummer-1- Hits. Seine Songs wurden von so unterschiedlichen Sängerinnen wie Gal Costa, Marisa Monte, Fernanda Abreu und Daniela Mercury, von Sängern wie Djavan und Caetano Veloso interpretiert. Er arbeitete mit der Hardrockband Sepultura genauso wie mit Avantgarde-Mixer Bill Laswell oder mit Sergio Mendes, der 1993 mit Brown-Kompositionen in den USA einen Grammy gewann. Darüber hinaus gehört er zu den Mitbegründern der Trommelgruppe Timbalada, neben Olodum die wichtigste Afro-bloco-Formation am Start in Salvador. Er selbst bemerkt zu seinen vielfältigen Aktivitäten lapidar: „Die Grenzen in der Musik sind nicht real. Es ist der Markt, der die Unterschiede macht.“

Carlinhos Brown behauptet glaubhaft, 100 fertige Alben im Kopf zu haben – was erklären dürfte, warum sein Debütalbum „Alfagamabetizado“, von Wally Badarou und Arto Lindsay produziert, streckenweise etwas überladen wirkt. Man muß sich die Platte mehrmals anhören, um die Vielfalt zu verdauen.

Eines der gelungensten Stücke ist sicherlich das afrokubanisch swingende „Seo Zé“, ein Duett mit Marisa Monte, in dem es heißt: „Brasilien ist nicht nur grün-blau und gelb. Es hat auch die Farben der Rose und der Holzkohle.“ Das Land vereinigt, wie Brown betont, neben „Afrika und Hollywood“ auch japanische, deutsche und arabische Einflüsse. Marisa Monte, die gelernte Opernsängerin aus besserem Hause, befand im Interview mit der Zeitschrift zitty: „Unsere Platten sind wie Geschwister. Man spürt, daß sie aus der gleichen Periode, der gleichen Zeit, der gleichen Haltung stammen.“

Zusammen sind Monte und Brown das recht gegensätzliche Prinzenpaar der brasilianischen New Power Generation – einer Generation, die mit internationalem Pop und Rock aufwuchs, aber, zumindest unbewußt, auch von der brasilianischen Tropicalia-Bewegung geprägt wurde. Von Bahia ausgehend, versetzten die Tropicalisten Brasilien in den sechziger Jahren mit Rock und kritisch engagierter Lyrik einen kräftigen Tritt, bevor der hoffnungsvolle Aufbruch von der Militärdiktatur jäh abgewürgt wurde.

Shooting Stars des Melting Pop

Ein Vierteljahrhundert später gibt es plötzlich wieder eine Renaissance intelligenter brasilianischer Popmusik, die, ähnlich dem Tropicalia-Ansatz, in der Tradition wurzelt und nach der Zukunft greift. Und es gibt neben Marisa Monte noch mehr Namen, die man sich merken sollte: Chico César zum Beispiel, ein ehemaliger Journalist mit ananasartigem Haarschopf, der aus dem nordöstlichen Bundesstaat Paraiba stammt und in São Paulo lebt. Der Shooting Star des letzten Jahres mischt mit seiner Band, dem Cuscus-Clan, Reggae, Pop und Rhythmen des brasilianischen Nordostens wie Maracatu zu einem ziemlich eingängigen, aber trotzdem nicht flachen afrobrasilianischen Melting Pop. Oder die Sängerin Daúde. Mit ihrem Debüt, einer Kombination aus Samba, Drum 'n' Bass, Bossa-Gitarren und Rap, gewann sie 1995 einen Sharp- Award, was ungefähr dem amerikanischen Grammy entspricht. Das britische Club-Magazin Straight no Chaser taufte sie eher gönnerhaft „Brasiliens Cyber- Babe“. Eines der größten Talente, der junge Chico Science, starb im vergangenen Jahr bei einem Autounfall.

Daß niemand den Geist des neuen Bahia so verkörpert wie Carlinhos Brown, sagte Caetano Veloso anerkennend über seinen ehemaligen Schlagzeuger – Symbol für ein Bahia jenseits von touristischer Vereinnahmung und kommerziellem Ausverkauf wohlgemerkt. Für das Stück „Quixabeira“ holte sich Brown mit den Tropicalia-Veteranen Gilberto Gil, Caetano Veloso, Gal Costa und Maria Bethania eine Art bahianische Fab Four als Backgroundsänger ins Studio. Und liiert ist er mit Helena Buarque, der jüngsten Tochter des Tropicalia-Intellektuellen Chico Buarque de Hollanda.

Alphabetisierung der Sinne

Carlinhos Brown selbst verortet sich allerdings nicht im Fahrwasser der Tropicalia-Bewegung. Deren Galionsfiguren gehörten schließlich qua Abstammung und Bildung zur Oberschicht, während Brown aus einfachen Verhältnissen stammt und nie mehr als die Grundschule besuchte. Schwarz und arm sein, das ist auch im vorgeblich nicht rassistischen Brasilien noch immer ein beachtliches Handicap, um es im Musikgeschäft zu etwas zu bringen.

Carlinhos Brown lebt heute immer noch im gleichen Favela-Viertel der Millionenstadt Salvador, in dem er mit seiner Familie aufwuchs – laut Brown „die komfortabelste Gegend, in der man wohnen kann, besser als die abgeschotteten Reichenghettos mit Schlagbaum und Wächtern“. In seinem Viertel initiierte er, neben Timbalada, vergleichbare Musikprojekte und -schulen speziell für Frauen und Straßenkinder. „Worte reichen nicht. Aktionen sind wichtiger“, lautet sein politisches Credo.

Erziehung und Ausbildung sind zentrale Probleme des heutigen Brasilien, weiß Brown – der Titel seines Albums spielt nicht von ungefähr auf die Alphabetisierung an. Und die Percussion, so glaubt er, der einst auf weggeworfenen Blechdosen zu trommeln begann, ist Medium der Kommunikation und ursprüngliche Sprache, die Stolz und Selbstwertgefühl gibt. In Brasilien mit seinen gerade mal vier Prozent Zeitungslesern, wo Radio und Fernsehen nur geringen Informationswert besitzen, spielt Musik tatsächlich eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Diskurs: intern zur kulturellen Selbstbehauptung, im Außenverhältnis, wie Fußball, als Medizin gegen postkoloniale Minderwertigkeitskomplexe.

Carlinhos Brown personifiziert ganz treffend das heutige Brasilien, das zwar als letztes Land der Erde die Sklaverei abschaffte, sich aber zugleich wie kein anderes den Fortschrittsgedanken auf die Fahnen schrieb, im wörtlichen Sinne: eine Liaison zwischen Postkolonialismus und Postmoderne.

Einmal quer über Europas Musikfestivals

Hierzulande ist Brown freilich noch weitgehend unbekannt. Mit dem Gassenhauer „A Namorada“ im Rücken, der auch den Soundtrack zu „Speed II“ schmückt, schickte seine Firma ihn diesen Sommer einmal quer über Europas Musikfestivals. Ob es etwas genützt hat, muß sich erst noch zeigen. Denn obwohl die Bahia-Batterien von Olodum schon für Paul Simon und Michael Jackson trommelten – noch hat kein brasilianischer Künstler der Neunziger auch im Ausland den wirklichen Durchbruch geschafft, wird brasilianische Musik in Europa und Japan immer noch vorzugsweise als Retro-Exotik goutiert. In den deutschen Charts tummelt sich schon seit Wochen mit Bellini ein furchterregender Stampf-Samba, was zwar brasilianisch klingt, aber aus deutscher Hitfabrikation, nämlich der Feder des Produzenten Frank Farian, stammt.

Dabei würde es sich lohnen, einmal fremdzuhören. Brasilien meldet sich zurück. Nicht nur im Fußball.

Mit freundlicher Unterstützung von José Leal