■ Hamburger Gericht erklärt Rechtschreibreform für gültig
: Die neue Unübersichtlichkeit

Was seit ein paar Monaten mit der Rechtschreibreform geschieht, ist für einen so aufgeräumten, ordentlichen Staat wie den unsrigen durchaus ungewöhnlich. Wo normalerweise alles seinen vorgeschriebenen Gang geht – nämlich bei der Gesetzgebung –, herrscht im Falle Rechtschreibreform ein munteres Durcheinander. So hat ein Gericht in Niedersachsen vorgestern die in den Schulen bereits eingeführte Reform für rechtswidrig erklärt. Gestern nun hat das Oberverwaltungsgericht Hamburg genau umgekehrt entschieden: Die Rechtschreibreform bleibt in der Hansestadt gültig – vorerst.

Die Inszenierung der Rechtschreiber, Rechthaber und Rechtsprecher wird in gewohnter Humorlosigkeit weitergehen. Am Freitag wird die Kultusministerkonferenz sich zu Wort melden und versuchen, Ordnung in die neue Unübersichtlichkeit zu bringen. Aber viel interessanter als die politische, juristische Seite ist ein anderer Aspekt: nämlich die Chance, die in dem Regelchaos steckt.

Das wird selbst an dem verquasten niedersächsischen Erlaß deutlich, der verlangt, mit den Büchern in neuer Rechtschreibung nun wieder die alte zu unterrichten. Die neue Rechtschreibung wird nun nicht mehr geboten, aber auch nicht verboten, sie darf nicht als Fehler angestrichen werden. Das ist exakt die neue Moral, an der ein Theoretiker der „zweiten Moderne“ wie Ulrich Beck die gleiche Freude haben wird wie die Kontingenzfraktion („Es gibt nicht nur eine Möglichkeit“) um Niklas Luhmann. Denn es geht gar nicht nur um Orthographie. Es geht ums Aufbrechen mentaler Orthodoxie. An die Stelle von striktem Richtig oder Falsch und engem Entweder-Oder tritt das Wörtchen „und“, treten erweiterte Felder, die nach möglich oder nicht möglich aufgeteilt werden.

Je länger nun der Streit um die Reform dauert, die ja tatsächlich zum Teil eine Deform ist, desto unüberhörbarer wird diese von niemandem als Programm verkündete Botschaft schon für Erstkläßler: Entscheide dich selbst, und überprüfe, ob du dich damit mitteilen kannst. Es gibt nicht mehr den einen Gott, weder in der Rechtschreibung noch anderswo. Das ist der durchaus erfreuliche Nebeneffekt des politischen Desasters Rechtschreibreform. So ist es köstlich anzusehen, wie all die spätmonotheistischen Prediger exakt das Gegenteil ihrer sturen Absicht erreichen. Die einzige Geschichtsphilosophie ohne Verfallsdatum ist eben die von Wilhelm Busch: Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. Reinhard Kahl

Freier Publizist und Fernsehautor in Hamburg