Tunesien ist schließlich kein Gulag

Tunesiens Präsident Ben Ali wird in Frankreich hofiert – Menschenrechtsorganisationen dringen hingegen nicht zu ihm vor, und eine Demonstration tunesischer Oppositioneller wurde einfach verboten  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Präsident Zine el-Abidine Ben Ali kann sich fast nicht beklagen. Während seines gestern abend zu Ende gegangenen zweitägigen Staatsbesuchs ist der Chef des kleinen Tunesien von der kompletten französischen Spitze wie ein ganz Großer hofiert worden. Nacheinander speiste er mit Staatspräsident und Premierminister, hörte Lobreden auf seine wirtschaftlichen Erfolge und unterzeichnete zahlreiche Verträge über eine Intensivierung der Zusammenarbeit. Und eine Demonstration vor dem Pariser Rathaus, zu der acht tunesische Oppositionsgruppen aufgerufen hatten, wurde kurzerhand verboten.

Erst gestern nachmittag, beim Empfang am Sitz von Parlamentspräsident Laurent Fabius im Pariser Hôtel Lassay, geriet das leidige Thema Menschenrechte doch in den Vordergrund: Die komplette grüne Parlamentsfraktion sowie ein Kommunist und ein Sozialist blieben dem Ereignis demonstrativ fern. Einem Mann wie Ben Ali, der weit über 2.000 politische Gefangene hat, Oppositionelle unter Hausarrest stellt und den Familienangehörigen von Flüchtlingen die Pässe entzieht, wollten sie nicht die Hand drücken.

Damit hat die Informationsarbeit von zahlreichen internationalen Organisationen im Vorfeld des umstrittenen Besuchs doch noch Erfolg gehabt. Amnesty international, Reporter ohne Grenzen und zahlreiche Menschenrechtsanwälte hatten Präsident Jacques Chirac und Premierminister Lionel Jospin in den vergangenen Wochen ausführlich über den Anstieg der Todesfälle in tunesischer Polizeihaft informiert und die jüngsten Fälle von Zensur (die allein in diesem Jahr auch 29mal die französische Tageszeitung Le Monde getroffen hat) aufgelistet. Sie hatten Berichte über die jüngsten Verhaftungen geschrieben – darunter auch die des ehemaligen Präsidenten der tunesischen Menschenrechtsliga und früheren Gewerkschafters Khémais Ksila, der am 29. September ohne Haftbefehl zu Hause von Polizisten abgeholt wurde. Am Tag zuvor hatte Ksila einen Hungerstreik gegen seinen Paßentzug, gegen sein Arbeitsverbot und gegen die Einschüchterung seiner Familienangehörigen begonnen.

Vergeblich hatte die internationale Menschenrechtsliga FIDH – deren Präsident Patrick Baudouin bislang lediglich von einem einzigen Land abgewiesen wurde: Tunesien – um ein Gespräch mit Ben Ali aus Anlaß seines Frankreich- Besuches gebeten. Nachdem auch andere Organisationen mit derartigen Anliegen scheiterten, wandten sie sich an die Öffentlichkeit und verlangten von der französischen Regierung eine „klare und harte Linie“ gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in Tunesien, für das Frankreich traditionell Handelspartner Nummer 1 ist und das 80 Prozent seines Außenhandels mit Europa abwickelt.

Die französische Spitze reagierte lau. Präsident Chirac wies seinen Besucher am Montag abend vor dem Gala-Diner darauf hin, daß er von ihm erwarte, daß die Justiz auf der Höhe der wirtschaftlichen Erfolge sei. Außenminister Hubert Vedrine erklärte am Montag gegenüber französischen Menschenrechtlern, er werde auf die Frage eingehen, wies jedoch zugleich darauf hin, man müsse „realistisch“ bleiben.

Realismus im Zusammenhang mit Tunesien bedeutet im Klartext: Rücksicht auf die spezielle geopolitische Lage des Neun-Millionen- Einwohner-Landes. Dessen Sandwichposition zwischen den beiden als entschieden größere Übel gewerteten Ländern Algerien und Libyen sowie seine von Weltbank und IWF gelobte Wirtschaftsbilanz (rund vier Prozent Wachstum, das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Region, trotz 16 Prozent Arbeitslosigkeit, und die erklärte Bereitschaft zu einem kompletten Freihandel ab dem nächsten Jahrtausend) geben Ben Ali außerordentliche Freiräume.

Der in Frankreich ausgebildete General Ben Ali, der sich 1987 mit einem „medizinischen Coup“ gegen seinen senilen Vorgänger aus der Position des Premierministers an die Staatsspitze putschte, kann zudem immer noch von einem anfänglichen Demokratiebonus zehren. 1987 und 1988 lobten selbst oppositionelle Politiker, die heute in Gefängnissen sitzen, seine Öffnungspolitik.

Inzwischen hat sich die ursprünglich auf die islamistische Oppositionspartei „Ennahda“ gerichtete Verfolgung auf die gesamte tunesische Opposition ausgedehnt. Ben Alis „Sicherheitsobsession“ wird auch in der französischen Staatsspitze anerkannt. Doch macht man dort gegenüber Kritikern geltend, daß Tunesien das entschieden kleinere Übel in der Region sei. „Tunesien ist nicht der Iran und auch kein Gulag“, heißt es bei den Realpolitikern in Paris.