Eine Welt ganz ohne Anfang

■ Yolande Zaubermanns brilliant fotografierter Film Ivan und Abraham friert die Ewigkeit ein

Das Panoptikum einer Diaspora. Eine Ehebrecherin, ein Kommunist, ein ominöser Gutsherr, ein Lehrer, der sich als gallespuckender Dorfirrer wichtig macht. Intrigen, Ränkespiele, geschlagene Sünder. Die Kleinkriege zwischen den Religionen, Geschlechtern, Generationen, Herren und Knechten in diesem Schtetl irgendwo im Ostpolen der 30er Jahre lassen über dem Dorf dunkelwolkige Beschwörungsformeln aufziehen. Das göttliche Schwert muß her oder wenigstens eine Naturkatastrophe. Eine Topographie aus Angst und Haß, deren ganze Bewegungslosigkeit und Sturheit die Kamera in brillianten, engen Einstellungen ausmalt. Was sich nicht versöhnen will, wird mit strengen Schnitten isoliert.

Keiner im Dorf, in dem Sinti, Juden und Christen in die Glaubensschlacht ziehen, kennt den Anfang ihrer Feindschaft. Und keiner fragt danach. Nur der jüdische Junge Abraham und sein Freund, der Christ Ivan, lassen den Zorn der Väter nicht mit unter ihre Bettdecke schlüpfen. Beim Zeigst-du-mir deinen-zeig-ich-dir-meinen-Spiel gibt es zwischen ihnen für einen Augenblick nur diesen kleinen Unterschied. Auch der kabbalistische Gesprächsritus des Rabbis erscheint dem eifrigen Talmud-Schüler Abraham bald als hohles Fragen-Zeremoniell. „Der Herrgott schützt jeden, aber suchen kann ihn keiner“, bekommt er von dem Graubart zu hören. Dabei wollte Abraham nur wissen, warum keiner mit ihm Verstecken spielen will. Mit der Empörung eines Betrogenen schleudert er ein wuchtiges „Das ist eine ganz andere Sache“an den faltigen Weisheitsspucker zurück. Und als Iwan und Abraham getrennt werden sollen, fragen die Freunde niemanden mehr um Rat, sondern fliehen gleich ins nächste Dorf. Dort blitzt ihnen das goldene Kruzifix an Christenhälsen wie ein Vampirmittel entgegen. Und altes Geraune von den Juden als Satansbrut, an deren Mundwinkel Kinderblut klebte, macht Abraham für jeden Kuhtod verantwortlich.

„Du hast Teufelsaugen“, sagt Ivan einmal nicht ohne Ehrfurcht. Ausgerechnet der Namensträger des jüdischen Urvaters gefällt sich bald als Wilder, der sich jahrtausendaltem Regelwerk widersetzt, das Glück nicht hinter kryptischen Thora-Aphorismen vermeint, sondern in der eigenen ungebremsten Leidenschaft findet. Und wenn er auf fremden Pferden reitet, billigt ihm die Regisseurin Yolande Zaubermann erstmals weite Horizonte und die ganze Bewegungsfreiheit in Cinemascope zu.

Die Nachwuchsregisseurin, deren Film nach monatelanger Verzögerung nun Hamburg erreicht, hat eine Welt wiedererstehen lassen, die es seit dem zweiten Weltkrieg und seit der Ausrottung der Juden durch die deutsche Besatzung nicht mehr gibt. Sie spürte eines der letzten Schetl in der Ukraine auf und ließ die Schauspieler Yiddisch lernen. Kein Wiederaufbau zerstörter Idylle, sondern einer knorrigen Welt, gebaut aus mittelalterlicher Angst und traditionalistischem Starrsinn. Zaubermann hält keinen Exodus ins gelobte Land, keine frischen Gesetzestafeln oder Wunder parat. Das Dorf verbrennt.

Ein Pogrom ohne Schreie und letzte Stoßgebete, führt den jüdischen Teil der Geschichte zum Nullpunkt. Fensterlöcher, surrende Stille und ein Davongekommener, der nur noch schlafen will. Abraham und Ivan sind zurückgekehrt. Sie suchen erst gar nicht nach etwas Übriggebliebenem, wissen sofort, daß sie nur noch sich selbst haben. Und so verzichtet Zaubermann auf eine Keine-Heimat-nirgends-Klage und friert die Umarmung der beiden für die Ewigkeit ein. Eine andere Utopie gibt es nicht.

Birgit Glombitza

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