■ Literaturskandal in Göttingen
: Was geschah wirklich in Zimmer 104?

Was sich nach der Lesung von Sibylle Berg und Wiglaf Droste im Deutschen Theater zu Göttingen in Zimmer 104 des „Hotel Gebhard“ in der Goethestraße in der Nacht vom 19. auf den 20. Oktober 1997 abspielte, wird sich vielleicht niemals völlig klären lassen. Aussage steht gegen Aussage. Gut erinnern kann ich mich daran, daß Herr Droste und ich behaglich plaudernd in Zimmer 104 vor der geöffneten Minibar saßen, bis sie alle war. Dann ging ich heim und schlief, bis mich der Alarmruf eines Investigativjournalisten des Göttinger Stadtradios weckte.

Es habe einen Skandel gegeben, wurde mir mitgeteilt, denn Herr Droste habe sein Hotelzimmer nachts durchs Fenster (sic!) verlassen, mit Sack und Pack, ohne ordentlich auszuchecken und vor allem ohne die Minibar-Rechnung zu begleichen. Daraufhin habe der Veranstalter der Lesung, Christoph Reisner, ein Mann, der in Göttingen in jedem Herbst einen heißen Reifen von Lesungen veranstaltet und geile Briten nach vorne bombt, Herrn Drostes Scheck sperren lassen.

Aber was geschah wirklich in Zimmer 104?

Es war alles ganz anders und viel harmloser. Zunächst ließ sich Herr Droste vom Nachtportier die Badewanne bis zum Rand mit Dom Perignon füllen. „Blubberwasser marsch“, kommandierte Herr Droste fröhlich. Den Hinweis auf die horrenden Kosten tat Herr Droste mit der scherzhaft gemeinten Bemerkung ab, daß Christoph Reisner dafür aufkommen werde. „Der Mann mit der goldenen Nase zahlt alles!“

Wir falteten aus dem Bettbezug ein seetüchtiges Gefährt und vergnügten uns damit, im schwappenden Champagner berühmte Schiffsunglücke nachzustellen. „Titanic!“ rief Herr Droste und drosch auf den Bettbezug ein. „Blubb, blubb, blubb! SOS! Mayday! Rette sich wer kann!“ – „Und jetzt die Estonia!“ jauchzte ich. „Nein“, rief Herr Droste, „die Exxon Valdez! Vielleicht ist noch Salatöl in der Minibar!“

Der Plan, mit Salatöl, das in Champagner ausläuft, die Havarie der Exxon Valdez zu simulieren, leuchtete mir unmittelbar ein. Herr Droste kehrte jedoch keineswegs mit Salatölbüchsen zurück, sondern mit drei leichten Mädchen mit Nektarinen im Haar und an den Hüften Gewürzgurken.

„Die kommen gerade alle aus der Minibar“, schrie Herr Droste.

Und tatsächlich, immer neue leichte Mädchen krabbelten aus dem Barfach, gewagt geschürzt und kurios geschminkt. Sie gaben sich als Csardasfürstinnen in Pornosöckchen zu erkennen und forderten uns dazu auf, das Mobiliar mit Handkantenschlägen zu zerlegen, damit wir mit den Spänen Mikado spielen könnten.

Gesagt, getan! Von Mikado gingen wir wenig später zu Flaschendrehen, Spitz-paß-auf und Kissenschlachten über, während Beethovens späte Streichquartette aus dem Radioweckerböxchen quollen. Da immer neue Damen aus der Minibar schlüpften, wurde es uns bald zu eng. Wir durchbrachen die Außenwand und zogen lärmend auf den Bahnhofsvorplatz um, wo wir vor begeisterten Obdachlosen pantomimisch das WM- Finale von 1966, das Gesicht von Robert Mitchum und das d'Hondtsche Bundestagswahlsystem darstellten.

Erst im Morgengrauen wurden Herr Droste und ich von der Bahnhofsmission eingesammelt, in Schmusedecken gehüllt, mit Caro- Kaffee gelabt und in den verdienten Schlaf gesungen. Da Herr Droste unterm Fußabtreter vor dem Zimmer 104 für alle Unkosten noch rechtzeitig einen Tausender deponiert hatte, ist eigentlich nicht einzusehen, was den berühmten Lesungsveranstalter Christoph Reisner daran hindern sollte, die Schecksperre aufzuheben.

Geben Sie nach, Herr Reisner! Gerhard Henschel