In Algerien finden heute Kommunalwahlen statt – in einem Land, das seit dem Erdrutschsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) 1990 und dem späteren Verbot der Partei ins Chaos stürzte. Nach Jahren des Bürgerkrieges und blutiger Massaker ist vielen Algeriern nicht nach wählen zumute. Das Militär ist überall, nur nicht da, wo es gebraucht wird. Aus Algier Reiner Wandler

Im Dreieck des Todes

Wer zur staubigen Kreuzung südlich von Baraki gelangt, hat die letzte Gendarmeriekaserne des Sicherheitsgürtels rund um Algier längst hinter sich gelassen. Zurück bleiben die übervölkerten Plattenbauten der Banlieues der algerischen Hauptstadt, wo Wandmalereien der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) die Fassaden zieren. Die leeren Straßen der Industriegebiete, die von der Wirtschaftskrise zeugen, sind ebenso im Rückspiegel verschwunden wie die Friedhöfe mit ihren langen Grabsteinreihen in frisch aufgewühlter Erde.

Geradeaus geht es nach Rais, rechts nach Sidi Moussa und Boufarik, links nach Sidi Youcef. Hier beginnt das Dreieck des Todes, wie die Mitidja, die fruchtbare Ebene zwischen Algier und dem sich am Horizont abzeichnenden Atlasgebirge genannt wird, seit dort die radikalen Islamischen Bewaffneten Gruppen (GIA) Angst und Terror verbreiten. Jeder Ort, der auf den verbeulten Wegweisern Erwähnung findet, machte in den letzten Monaten gleich mehrmals durch blutige Anschläge und Überfälle von sich reden.

Die Soldaten in ihren roten Wachhäuschen schauen gelangweilt den Staubwolken nach, die der warme Wind vor sich her treibt. Über allem liegt der süßliche Geruch von verbranntem Holz; die Eukalyptusbäume, die einst die holprigen Landstraßen in malerische Alleen verwandelten, wurden erst vor kurzem gefällt und verbrannt. Aus den Aschehaufen steigen noch immer vereinzelt Rauchfäden auf.

Heute sind die Felder und Orangenhaine besser von der Straße einsehbar. Landarbeiter gehen in den Gärten, die von den französischen Kolonialherren angelegt wurden, ihrem Tagwerk nach. Soldaten im hellbraun gefleckten Kampfanzug begleiten sie, die Kalaschnikow immer schußbereit. Ein paar hundert Meter weiter weht zu beiden Seiten der Straße die weißgrüne Nationalfahne mit rotem Stern und Halbmond auf hohen Stangen – der Ortseingang von Rais. Ein halbes Dutzend mit Kalaschnikow oder Jagdgewehren bewaffnete Jugendliche in Trainingsanzügen kontrolliert jedes Fahrzeug, das sich in das 4.000-Einwohner-Dorf verirrt. Sie gehören zu den Selbstverteidigungskomitees, die nach dem 28. August, der „Nacht des Dramas“ gegründet wurden.

„Gegen Mitternacht war plötzlich der Strom weg und das Telefon tot. Und dann hörten wir auch schon die Schreie aus dem Nachbarhaus“, erzählt Aliche. Der 53jährige Bauer bewohnte ein zweigeschossiges Haus mit Innenhof, direkt am Ortsrand. Einem Teil seiner 33köpfigen Familie gelang es, vor den Angreifern, die über die Felder gekommen waren, in Richtung Ortskern zu fliehen. Der Rest verbarrikadierte die Eingangstür und zog sich auf die Dachterrasse zurück. „Mit Hilfe einer Sprengladung drangen sie trotzdem ein“, erinnert sich Aliche.

Mit Steinen und Knüppeln bewaffnet verteidigten die Belagerten den Aufgang. Die Angreifer gaben irgendwann auf und legten ein Stockwerk tiefer Feuer, bevor sie abzogen – nicht ohne vorher Schmuck, Geld und Lebensmittel einzupacken. Ein junges Mädchen wurde verschleppt, eine Frau kam in den Flammen ums Leben, eine weitere wurde auf der Treppe enthauptet. Im Nachbarhaus fanden 15 Menschen den Tod. Im ganzen Dorf waren es nach Aliches Angaben 450 Tote. Die Regierung spricht bis heute von 98. Die Überlebenden wohnen seit dem Überfall bei Verwandten in der Ortsmitte von Rais. Nur die Männer kommen fast täglich hier raus, um die Häuser wieder bewohnbar zu machen. Zwar hängt die Eingangstür noch immer zerstört in den Angeln, doch das Erdgeschoß von Aliches Haus ist weitgehend aufgeräumt, der Strom geht schon wieder. Die oberen Räume hingegen bieten einen furchtbaren Anblick. Es ist überflüssig zu fragen, woher die rotbraunen Flecken auf der Treppe stammen. Die verkohlten Reste der Fensterrahmen stecken in der Mauerfüllung. Der Putz ist durch die Hitze der Flammen von Wänden und Decken gesprungen, einzelne Backsteine sind ganz einfach weggeplatzt. In einer Ecke ragen fünf Reihen rußgeschwärzter Spiralfedern aus der Asche: die Reste eines Ehebettes.

Den Überlebenden des Überfalls geht eine Frage nicht aus dem Kopf. „Wo war die Armee, als die Terroristen vier Stunden lang wüteten?“ Ungefähr 800 Meter von Aliches Haus entfernt befindet sich ein Militärposten. „Normalerweise sind dort 60 bis 70 Mann stationiert. Als die Terroristen kamen, waren es nur 20, und die trauten sich nicht heraus.“ Vor der „Nacht des Dramas“ gab es im Dorf keine Selbstverteidigungskomitees. „Wir waren doch neutral“, erklärt Aliche. 80 Prozent hatten bei den Kommunalwahlen von 1990 die FIS gewählt. Wer wäre da schon auf die Idee gekommen, Rais könnte dem islamistischen Terror zum Opfer fallen. Nach Wahlen ist den Einwohnern von Rais nach der Schreckensnacht nicht zumute, die meisten werden auf einer Teilnahme an der heutigen Kommunalwahl verzichten.

Nur wenige Kilometer weiter, in Benthala, warteten die Einwohner ebenfalls vergebens auf Hilfe, als knapp einen Monat später, am 23. September, auch hier das Grauen Einzug hielt. 200 Menschen wurden ermordet. Heute liegt die Siedlung aus halb fertiggestellten einstöckigen Häusern wie eine Geisterstadt da. Ein paar ärmlich gekleidete Kinder spielen auf den unbefestigten Straßen. Plastiktüten, mit den Griffen an einer Schnur befestigt, dienen als improvisierte Drachen. Die Milizen, eine Gruppe bezahlter Dorfjugendlicher in olivgrüner Uniform ohne Rangabzeichen, patrouillieren durch die Straße, die Klasch – wie sie das berühmte russische Maschinengewehr liebevoll nennen – geschultert. Eine Nationalfahne schmückt ein Schützennest, das aus Hohlblocks auf einem der Neubauten improvisiert wurde.

„Heute leben hier nur noch 60 Männer“, erzählt Morad. „Vor dem Überfall waren wir über 2.000.“ Sie alle haben bei Verwandten in Algier oder den Vororten Unterschlupf gefunden. Morad (23), dessen Familie entkam, und sein Freund Hocha (17), der 17 Tote zu beweinen hat, gehören zu denen, die trotz Angst immer noch ausharren. Hocha geht noch zur Schule, Morad jobbt auf dem Bau. Sein Vater ist arbeitslos. Als er 1992 die enge Innenstadtwohnung verließ und hier draußen zu bauen begann, verdiente er als Techniker in einer staatlichen Möbelfabrik gut. Heute, nach den Privatisierungen und Massenentlassungen, ist der Traum zerplatzt. Die Bauruinen zeigen, daß es vielen Nachbarn nicht besser erging. Seit dem Ausbruch des Konflikts wuchs der Ort weiter. Immer neue Menschen kamen aus dem Hinterland nach Benthala. Nahe der Hauptstadt versprachen sie sich mehr Schutz. Ein tragischer Irrtum.

„Immerhin haben wir jetzt Waffen“, sagt Morad. Er, der seinen Militärdienst bereits hinter sich hat, bekam nach dem Massaker von der Armee eine „Klasch“ mit 140 Schuß Munition ausgehändigt. Hocha nennt ein Jagdgewehr mit 20 Kartuschen sein eigen. Zwar sind mittlerweile auch Soldaten hier, doch nehmen die wenigen Einwohner Benthalas ihr Schicksal lieber selbst in die Hand. Der Blick, den die beiden Jugendlichen jedem vorbeifahrenden Armee- Lkw hinterherschicken, drückt Mißtrauen und Ablehnung aus. Während die Väter schlafen, lösen sich die beiden Nacht für Nacht mit ihren Brüdern im Dreistunden- rhythmus bei der Wache auf dem Dach ab. Weggehen wollen sie nicht. „Das Haus ist alles, was wir haben“, sagt Morad. Dann schüttelt er nachdenklich den Kopf und fragt: „Aber kann man das hier eigentlich noch Leben nennen?“