Schrank auf, Tür zu

■ Ein neues Stück plus eine Gala: Das Theater Strahl feiert fröhlich seinen zehnten Geburtstag

Thomas hat guten Grund für ein Stoßgebet. Seine Mutter sieht überall nur Todesgefahren und behütet ihn wie ein kleines Kind; sein bester Freund ist in das gleiche Mädchen verknallt wie er selbst; Lehrer Spitzer hat sich ausgerechnet ihn herausgepickt, damit er einen hat, den er jeden Tag piesacken und lächerlich machen kann. Und dann wollen ihm da unten einfach keine Haare wachsen, wo doch alle anderen Jungs schon längst welche haben. Die ganze Welt scheint sich gegen Thomas verschworen zu haben – da kann nur noch Gott helfen.

Und der schickt tatsächlich einen Boten. Mit Pauken und Trompeten und jeder Menge unvermeidlichem Bühnennebel steht er plötzlich im windschiefen Kleiderschrank. Einen Tropenhelm mit kleinen Flügelchen auf dem Kopf und einer überraschenden Botschaft auf den Lippen: Thomas ist ab sofort die kleine Engelslizenz verliehen. Ohne Flügel zwar und nur Wunder der Mittelklasse, untersagt sind zudem das Fluchen und Wiederauferstehungen, aber immerhin. Sagt's und verschwindet. Thomas nutzt die Chance, richtet seine Welt, wie's ihm gefällt – und macht damit alles nur umso schlimmer und komplizierter. Ein Höllenspaß.

Das Jugendtheater Strahl macht sich zum zehnten Geburtstag selbst ein Geschenk. Zum ersten Mal hat es ein Stück nicht selber entwickelt, sondern greift auf eine Vorlage des Dänen Kim F. Aakeson zurück. Zwar geht es in „Wunderzeiten – ein Stück über verwünschte Liebe und verliebte Wünsche“ auch um allseits bekannte Probleme von jungen Menschen in der Pubertät, aber diesmal steht eindeutig der Spaß im Vordergrund. Boulevard für Jugendliche, mit ziemlich Tempo gespielt und reichlich Witz. Drei Schauspieler (Wolfgang Stüßel, Nadine Wrietz und Alfred Hartung) meistern sechs Rollen, da heißt es ständig: Schrank auf, Tür zu. Eine gute Stunde flutscht die Komödienmaschine, bis zum fast versöhnlichen Happy-End.

„Wunderzeiten“ ist die neunte Produktion des Theaters Strahl in zehn Jahren. Angefangen hatte alles 1988 mit „Dreck am Stecken“, einer Revue über Sexualität und Aids. Die erste eigenfinanzierte Prodution war gleich ein künstlerischer wie publikumswirksamer Volltreffer. Auch was danach kam, war einerseits ambitioniert und mit aufklärerischem Anspruch und andererseits doch ganz der Sprache und Weltsicht der Jugendlichen vertraut und verpflichtet. Ob „Volltreffer“, ein Stück über ersten Sex und eine ungewollte Schwangerschaft, „Black Out“ über Ausländerhaß oder „Heißes Eisen“ über die Liebe zwischen zwei Mädchen – mit seinen Stücken hält das Theater Strahl die Balance zwischen Ernsthaftigkeit fern des erhobenen Zeigefingers und Theaterspaß.

Und doch, so sieht es Ferry Ettehad, Regisseur nicht nur von „Wunderzeiten“ sondern auch Autor verschiedener Strahl-Produktionen, heute rückblickend: Ohne die Mithilfe einiger Freunde und Kollegen hätte das Theater den Start kaum überlebt. So sorgt Karikaturist Ol seit Anbeginn für die Plakate und bisweilen sogar fürs Bühnenbild. Das „College of Hearts“ bereitete für Strahl Songs aus ihren Musicals auf und steuerte hin und wieder auch Originalmusiken bei. Irene Rindje gehörte zeitweilig zum Ensemble, und Thomas Pigor lieferte Liedtexte. Freundschaftsdienste und das dichte Netz der freien (Jugend)-Theaterszene halten Projekte wie Strahl lebendig und am Leben.

Ferry Ettehad gehört seit acht Jahren zu den 12 festen Mitarbeitern des Theaters. Etwa ein Drittel wird an der Theaterkasse eingespielt, der Rest wird derzeit durch eine Optionsförderung des Kultursenats gedeckt, die noch bis 1998 garantiert ist. Danach hofft man, nach der Umstrukturierung der Berliner Off-Theater-Finanzierung eine der begehrten institutionellen Förderungen zu erhalten.

Ettehad und seine MitstreiterInnen geben sich optimistisch: „Wir hatten gerade erst eine Strategieplanung, und zwar bis ins Jahr 2001.“ Weil man sich bislang durch ABM-Stellen und vor allem Selbstausbeutung immer wieder durchgeschlagen hat, wird man selbst potentielle Katastrophen überstehen. Doch für eine Ausweitung der erfolgreichen Theaterworkshops mit Schülern oder die Überarbeitung alter Stücke aus dem Repertoire sind weder die Zeit noch die finanziellen Reserven vorhanden. Jeweils ein neues Stück kommt pro Jahr hinzu, etwa fünf bleiben regelmäßig im Repertoire. Mehrere Monate Recherchen gehen einer neuen Produktion voraus. Bei öffentlichen Proben werden die Stücke getestet und die Meinungen, eigene Erlebnisse und Erfahrungen der jungen Zuschauer mit eingearbeitet. Über 120 Vorstellungen werden pro Jahr in Berlin gespielt, hinzukommen knapp 30 Tourtermine im Bundesgebiet. Stolz zählt man mehr als 20.000 Zuschauer pro Jahr.

Was sie sich wünschen für die nächsten zehn Jahre? „Ein eigenes Haus, auch wenn das natürlich gleich höhere Fixkosten bedeutet“, sagt Ettehad. Aber einmal nicht nur Gast auf Widerruf zu sein, sondern fest an einen Ort gebunden, „das wäre schon ein Traum“. Doch noch wichtiger ist, „daß wir den Spaß miteinander nicht verlieren“. Axel Schock

Nächste Vorstellung von „Wunderzeiten“ heute um 11 Uhr in der „Weißen Rose“, Martin-Luther- Straße 77.

Die Gala „10 Jahre Strahl“ u.a. mit Pigor & Eichhorn, Popette Betancor, Mai Horlemann, Taka Two am 31. Oktober und 1. November, jeweils 21 Uhr.